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03.03.2025

Vorbild mit Schrammen

Kanadas Einwanderungspolitik galt lange als vorbildlich. Inzwischen wird das Land allerdings zum Opfer seiner eigenen Attraktivität.

Grenzüberschreitung - Online

Vorbild mit Schrammen

Kanadas Einwanderungspolitik galt lange als vorbildlich. Inzwischen wird das Land allerdings zum Opfer seiner eigenen Attraktivität.

Über einen Fachkräftemangel müssen sich kanadische Unternehmen kaum Sorgen machen. „Ein demografisches Problem wie in Deutschland gibt es hier nicht“, sagt Yvonne Denz, Geschäftsführerin der Deutsch-Kanadischen Industrie- und Handelskammer (AHK Kanada). Das liegt an einem gesunden Bevölkerungswachstum: Seit der Jahrtausendwende ist die Einwohnerzahl Kanadas von 30,6 auf mehr als 40,1 Millionen angewachsen – während Deutschland nur einen kleinen Schritt von 82,3 auf 83,4 Millionen geschafft hat. Den massiven Zustrom neuer Bürger steuert Kanada seit 1967 über ein Punktesystem, das weltweit als vorbildlich gilt. Sein Grundprinzip: Nur derjenige darf ins Land, der auf dem Arbeitsmarkt gebraucht wird. Zwei vereinfachte Beispiele zeigen, wie das System funktioniert:

Eine 34-jährige Informatikerin hat sich bei einem Softwareunternehmen in Toronto beworben und will vorab ihre Einbürgerungschancen prüfen. Da Kanada junge Einwanderer bevorzugt, erhält sie in der Kategorie „Alter“ die Maximalpunktzahl 12. Für ihren Bachelorabschluss gibt es 21 Punkte, hinzu kommen 13 Punkte für fünf Jahre Berufserfahrung. Ihr Englisch schätzt die Informatikerin als gut ein, was ihr in der Kategorie „Sprachkenntnisse“ 20 Punkte bringt. Allerdings hat ihr die Softwarefirma noch kein konkretes Jobangebot gemacht, deshalb geht sie in der Dimension „Erwerbschancen“ leer aus. In Summe kommt die IT-Fachfrau auf 66 Punkte, was knapp unter dem aktuellen Minimum von 67 Punkten liegt. 

Ein promovierter Ingenieur (55) bekommt von einem deutschen Elektrokonzern die Büroleitung in Vancouver angeboten. Für seine Einwanderungschancen ist die Seniorität schlecht, da es ab 47 Jahren null Punkte in der Kategorie „Alter“ gibt. Dafür kann der alte Hase aufgrund seines Doktortitels bei „Bildung“ die Maximalpunktzahl 25 einstreichen. Hinzu kommen 15 Punkte für mehr als sechs Jahres Berufserfahrung. Ein Sprachtest bescheinigt dem Ingenieur hervorragende Kenntnisse in Englisch und Französisch – was in der Kategorie „Sprachen“ die Maximalpunktzahl 28 bedeutet. Nochmals 10 Punkte kommen hinzu, weil er ein definitives Jobangebot vorweisen kann. Macht in Summe 78 Punkte. Der Ingenieur darf also in den Pool der Einwanderungskandidaten, wobei über die finale Zusage noch eine Behörde entscheidet.

Intensive Integrationsmaßnahmen

Kanada wählt seine Neubürger aber nicht nur sorgfältig aus. „Die Integrationsmaßnahmen sind hier extrem umfangreich“, lobt Denz. Das beginnt mit Sprachkursen, geht über eigene Zuwandererklassen in den Schulen bis hin zu Bewerbungs- und Interviewtrainings für Jobsucher. Sorgfältig auswählen und aufwändig integrieren: Dieses kanadische Erfolgskonzept versuchen Regierungen rund um die Welt zu kopieren – nicht zuletzt die Ampelkoalition mit ihrem Fachkräfteeinwanderungsgesetz. 

In Kanada selbst sehen viele das Einwanderungsmodell allerdings kritisch. Denn das Land wird zunehmend Opfer seiner eigenen Attraktivität. Die rasante Zuwanderung führt zu Engpässen bei der medizinischen Versorgung und der Infrastruktur – und vor allem auf dem Wohnungsmarkt. Die Provinz Ontario etwa verzeichnete 2023 eine Zuwanderung von 200.000 Personen – bei einer sinkenden Zahl von Bauprojekten. Das Ergebnis ist ein drastischer Preisanstieg auf allen Wohnungsmärkten. In Toronto etwa kostet ein Zwei-Personen-Appartement 400 Prozent mehr als vor zehn Jahren.

Demografietrend bleibt positiv

Der Unmut über „Housing Crisis“ ist mittlerweile so groß, dass der damalige Premierminister Justin Trudeau im vergangenen Oktober die Notbremse ziehen musste. Er gab zu, Fehler in der Einwanderungspolitik gemacht zu haben, und kürzte die Quoten: Statt 500.000 Neubürger nimmt Kanada 2025 nur noch 395.000 Personen dauerhaft auf, und in den Folgejahren sollen es noch weniger werden. Die Zahl der temporären Einwanderer (Schülerinnen und Schüler, Studierende) wurde von 800.000 auf 446.000 fast halbiert. Trotz dieser Maßnahmen bleibt Kanada jedoch langfristig auf einem Wachstumspfad. Während die deutsche Bevölkerung bis zum Jahr 2050 stagnieren dürfte, soll die kanadische um weitere 15 Prozent wachsen.

 

Text Constantin Gillies | Illustration shutterstock/ Scoot Heaney, shutterstock/ zhongyugan

 

Dieser Artikel ist Teil der Ausgabe 2025, die am 24. März 2025 erscheint.

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