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04.03.2024

„Normen sind Chefsache“

Kerstin Jorna leitet in der Europäischen Kommission die Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU (GROW). Der Einfluss der EU-Staaten auf die internationale Normung ist ihr ein wichtiges Anliegen. Sie wünscht sich, dass mehr Expertinnen und Experten aus den Mitgliedsländern in internationalen Gremien vertreten sind.

Brüssel Insights - Online

„Normen sind Chefsache“

Kerstin Jorna leitet in der Europäischen Kommission die Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU (GROW). Der Einfluss der EU-Staaten auf die internationale Normung ist ihr ein wichtiges Anliegen. Sie wünscht sich, dass mehr Expertinnen und Experten aus den Mitgliedsländern in internationalen Gremien vertreten sind.

 

Wenn die Bedeutung von technischen Normen erklärt wird, muss oft ein Klassiker herhalten, der wohl auf nahezu jedem Schreibtisch direkt vor uns liegt: das „DIN A 4-Blatt“. Bereits 1922 wurden Papierformate definiert, damals noch unter der Nummer „DIN 476“. Doch Normen sind heute weitgehend international und so hat auch das Standardformat für unsere Zettelwirtschaft eine neue Nummer bekommen, die „DIN EN ISO 216“. 

Was ohne einen Standard für Papier passieren würde, kann sich jeder leicht ausmalen. Ein großes Durcheinander wäre die Folge. Normen sind aber auch in unzähligen weiteren Lebensbereichen unverzichtbar, denn sie stellen für nahezu alle Produkte eine gemeinsame technische Sprache dar, die den weltweiten Handel fördert, Qualität sichert, die Umwelt und die Gesellschaft schützt sowie die Effizienz verbessert. Zudem sind die Normen die Grundlage für Innovationen. Schon der österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter sprach davon, dass nur mit Hilfe von Normen Innovationen zu Produktneuheiten werden können, die sich am Markt auch durchsetzen. Für die Skalierung im Markt ist die Normung eine Voraussetzung. 

Der starken Rolle, die Deutschland bei der Normung traditionell spielt, verdankt die Industrie ihren guten Zugang zu den globalen Märkten. Würden andere Staaten die Normen setzen, wären teure Anpassungen an diese Standards die Folge. Auch die Organisation der Lieferketten würde komplexer werden. In Deutschland kümmern sich die DKE und das Deutsche Institut für Normung (DIN) um die technischen Standards. In den allermeisten Fällen – nämlich zu 93 Prozent – haben die elektrotechnischen Normen einen europäischen oder internationalen Hintergrund. Von zunehmender Bedeutung sind daher seit langem die Internationale Elektrotechnische Kommission (IEC) und Internationale Organisation für Normung (ISO). 

Länder wie China haben erkannt, wie wichtig die Mitarbeit in den Normungsgremien ist. Auch in der EU wächst das Bewusstsein für die große geostrategische Bedeutung des Themas. Kerstin Jorna, die Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU (GROW), nimmt im Interview Stellung zu aktuellen Fragen rund um Normung und Standardisierung und den Plänen der EU.

Ich muss schon in der Forschung und Entwicklung an die Standardisierung denken. Denn wer die Normen hat, hat auch den Markt. Und wer den Markt hat, hat es leichter, seine Investitionen zu finanzieren.

Kerstin Jorna

Frau Jorna, wir stehen kurz vor der nächsten Europawahl. Wie lautet Ihr Fazit für die ablaufende Legislaturperiode? 

Wir mussten große, unvorhersehbare Herausforderungen bewältigen, insbesondere die Covid-Krise. Sie hat den europäischen Binnenmarkt vor eine schwierige Bewährungsprobe gestellt. Aber er hat eine unglaubliche Kraft bewiesen. Ein gutes Beispiel sind die Impfstoffe. Anstatt dass die Mitgliedstaaten gegeneinander geboten und Einzellösungen gesucht haben, haben wir es geschafft, die richtigen Vakzine auszuwählen, zuzulassen und schließlich gemeinsam einzukaufen. Mit einem fantastischen Industrieapprat in Europa konnten wir schließlich nicht nur genügend Impfstoff für die Bürger in Europa produzieren, sondern auch die ganze Welt beliefern. Diese enorme Solidarität hätte ich noch vor fünf Jahren nicht für möglich gehalten.
Gleichzeitig ist der globale Wettbewerb immer härter geworden. Der EU-Anteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt nimmt kontinuierlich ab.

Was haben Sie erreicht, um die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu stärken?
Wir haben einen soliden Rechtsrahmen geschaffen, um die Klimaziele der EU erreichen zu können. Das ist eine wichtige Grundlage, damit Unternehmen investieren können. Wir mussten nach der Covid-Krise und dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine auch erkennen, wie anfällig unsere Wertschöpfungsketten sind. Als Reaktion darauf haben wir ein Rohstoffgesetz für den Binnenmarkt geschaffen. Wir haben auch Binnenmarktregelungen geschaffen, um unabhängiger von fossilen Rohstoffen zu werden. Wir ermöglichen kürzere Genehmigungsverfahren, um schneller neue und saubere Technologien einsetzen zu können. Auch haben wir dafür gesorgt, dass neue Akademien für mehr Fachkräfte gebaut werden. 

Welche Rolle spielt die Normung für die europäische Wettbewerbsfähigkeit?

Ich habe mich schon vor etwa zehn Jahren sehr intensiv mit Normen beschäftigt und bin ein totaler Fan von ihnen geworden. Ich glaube, wir verfügen in Europa über ein Normungssystem, das sehr innovationsfreundlich und schnell ist. Und was wir in den vergangenen fünf Jahren in der Generaldirektion auch geschafft haben: Normen sind inzwischen Chefsache. Denn sie sind vor dem Hintergrund der Dekarbonisierung gerade jetzt enorm wichtig. Wir werden in Europa wahrscheinlich die erste Wasserstoffökonomie der Welt sein. Es ist doch klar, dass wir dann auch Normen beispielsweise für die Sicherheit oder die Reinheit setzen müssen. 

Schaffen wir es auch, globale Standards für die Wasserstoffwirtschaft zu setzen?

Natürlich haben wir den globalen Markt im Blick und arbeiten dafür an globalen Normen. Unser System ist ohnehin sehr eng abgestimmt mit internationalen Normungsorganisationen. Europa hat in der Elektrotechnik oder dem Maschinenbau immer die tonangebende Rolle gespielt. Aber jetzt geht es auch um neue Felder: Internet of Things, Cybersicherheit und erneuerbare Energien zum Beispiel. China hat mittlerweile auch eine Normenstrategie und mischt mit. Aber wir sind gut aufgestellt und auch strategisch gut unterwegs. 

Die EU muss gemeinsame Prioritäten entwickeln und mit einer Stimme sprechen. Wenn jeder für sich selbst spricht, fällt es keinem auf.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ja, wir haben uns im High-Level Forum on European Standardisation beispielsweise mit der Frage auseinandergesetzt, welche Netze wir für die erneuerbaren Energien brauchen. Ende des vergangenen Jahres wurden die Ergebnisse in die entsprechenden Planungen aufgenommen. Und wir werden wahrscheinlich schon Ende 2024 Normen haben, die wir auf internationaler Ebene vertreten können. Es kann sehr schnell gehen, insbesondere wenn wir es strategisch anpacken.

Trotzdem: China unternimmt sehr starke Anstrengungen, um auf internationaler Ebene mehr eigene Normen durchsetzen zu können. Ist das nicht eine Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit Europas?

Sagen wir es mal so: Wir hatten bei der internationalen Normung immer die Nase vorn und nun müssen wir eben noch besser werden und auf europäischer Ebene auch noch stärker zusammenstehen. Und das machen wir jetzt mit dem High-Level Forum. Für mich sind die Ambitionen Chinas nicht das wahre Problem. Ich sehe darin eher eine Herausforderung. 

Und wo liegt das wahre Problem?

Ich sehe ein Problem darin, dass die Unternehmen zahlenmäßig nicht genügend Experten für die Normung haben. In einigen Unternehmen werden verdiente Mitarbeiter für die Normung bestehender Produkte abgestellt. Das ist falsch herum gedacht. Ich muss eigentlich schon in der Forschung und Entwicklung an die Standardisierung denken. Denn wer die Normen hat, hat auch den Markt. Und wer den Markt hat, hat es auch leichter, seine Investitionen zu finanzieren. 

Wenn Sie schon die fehlenden Experten ansprechen: Der ZVEI hat vorgeschlagen, die steuerliche Forschungszulage auf den Bereich der Normung zu erweitern. Was halten Sie von dem Vorschlag?

Es ist wichtig, die Rolle der Normung stärker zu berücksichtigen, wenn wir den gesellschaftlichen Wert und die Wirkung von Investitionen in Forschungs- und Innovationsprojekte bewerten. Wir machen das schon – indem ein Teil des EU-Budgets für Forschung auch in die Standardisierungsarbeit fließen kann und tatsächlich auch fließt. Denn mit der Norm ist es so wie mit dem Patent: Man muss versuchen, es möglichst schnell zu bekommen. 

Wie sehen Sie die Common Specifications, die auf europäischer Ebene beschlossen werden. Gefährdet es nicht die Internationalisierung von Normen, wenn die EU eigene Spezifikationen umsetzt?

Nein, Common Specifications sind wie das Metroticket in der Trainingshose. Ich nehme es nur zur Sicherheit mit, für den Fall, dass ich aus irgendeinem Grund nicht zurücklaufen kann. Internationale Normen haben für uns den absoluten Vorrang. 

Wie kann Europa in den internationalen Normungsgremien künftig relevant bleiben?

Die EU muss vor allem gemeinsame Prioritäten entwickeln und mit einer Stimme sprechen. Wenn jeder für sich selbst spricht, fällt es keinem auf.
 

 

Text Michael Gneuss | Bild 

 

Dieser Artikel ist Teil der Ausgabe 1.2024, die am 15. April 2024 erschienen ist.

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