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28.11.2019
Die demografische Entwicklung, mehr chronische Erkrankungen und ein zunehmender Fachkräftemangel stellen das heutige Gesundheitssystem vor Herausforderungen. Die Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft bietet Antworten darauf. Außerdem stärkt sie die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland. Wer aber Vorreiter in der digitalen Gesundheit werden möchte, muss die gesetzlichen Rahmenbedingungen vorausschauend gestalten. Vom 24. September bis zum 28. November werden hier jede Woche zwei Handlungsempfehlungen als Antwort auf aktuelle Herausforderungen vorgestellt.
Eine individuelle Gesundheitsversorgung wird durch die Vernetzung aller beteiligten Akteure im System beschleunigt. Die Erfassung, Auswertung und Kommunikation von Daten bedarf eines bundeseinheitlichen Rechtsrahmens, der sowohl einen hohen Standard an Datenschutz als auch die Nutzbarkeit von Forschungs- und Versorgungsdaten gewährleistet. Ohne einen gesetzlich festgelegten und innovationsoffenen Rechtsrahmen sowie die Abkehr vom Prinzip der Datensparsamkeit können die Wertschöpfungspotenziale der Digitalisierung nicht optimal genutzt werden.
Aufgrund der föderalen Struktur und der unterschiedlichen Länderzuständigkeiten im Bereich des Datenschutzes ist es zielführend, ein bundesweit einheitliches Nutzungsmodell für personenbezogene Daten in den Bereichen Forschung und Entwicklung zur Verfügung zu stellen. Dafür bedarf es eines gesetzlich definierten Rahmens für die Nutzung von personenbezogenen Daten mit einer Mustereinwilligung, die auch die Möglichkeit einer Datenspende einbezieht
Nach der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) ist bei der Nutzung von Daten ohne Personenbezug keine Einwilligung des Patienten notwendig. Wann aber der Personenbezug gegeben ist und wann nicht, ist bis dato nicht festgelegt. Deshalb bedarf es eines klar geregelten Rahmens für die Datennutzung ohne Einwilligung. Dafür ist eine gesetzliche Definition von Kriterien für den Entfall des Personenbezugs notwendig.
Das aktuelle Datenschutzmodell in Deutschland beruht auf Datensparsamkeit und beschränkt die Nutzung der Daten auf den Grund der ursprünglichen Datenerhebung. Daten, die im Rahmen einer Diagnose erhoben worden sind, sollten jedoch zusätzlich auch für die Forschung verwendet werden können. Das geht heute aber nur, wenn der Patient schon bei der Diagnose genau über den Zweck der Forschung informiert wurde und dem zugestimmt hat. Eine digitale, auf Daten basierende Gesundheitsversorgung entwickelt sich aber nur dann, wenn eine Nutzung von Daten auch außerhalb des ursprünglichen Zwecks der Datenerhebung möglich ist. Eine gesetzliche Regelung zur Weitergabe von Adressdaten im Falle einer nachträglichen Einwilligung für Forschungsund Versorgungszwecke ist deshalb zwingend notwendig.
Moderne Gesundheitsversorgung ist ohne vernetzte Medizintechnik nicht mehr möglich. Dabei werden personenbezogene Daten der Patienten für verschiedene Zwecke erhoben. Sie müssen für die Behandlung der Patienten genutzt werden können. Sie müssen aber auch gegen unberechtigten Zugriff geschützt werden.
Bisher sind nur Krankenhäuser, die zur Gruppe der kritischen Infrastruktur zählen, verpflichtet, ein IT-Sicherheitskonzept auf dem Stand der Technik zu implementieren und regelmäßig zu aktualisieren. Da aber vermehrte Cyberangriffe in der Zukunft zu erwarten sind, ist es umso wichtiger, dass alle Leistungserbringer ein umfassendes Sicherheitskonzept für das eigene Netzwerk und die darin betriebenen IT-Systeme und Medizingeräte etablieren.
Jeder Leistungserbringer sollte dazu verpflichtet werden, mindestens ein klar definiertes System von Zugriffs- und Nutzungsrechten zu erstellen. Idealerweise wird dieses Rechtemanagement mit „log + control“-Prozessen sowie einer permanenten Überwachung der Datenflüsse ergänzt. Ungewöhnliche oder nicht autorisierte Zugriffe auf Daten müssen Alarm auslösen und gemeldet werden.
Auch die Hersteller von Medizinprodukten sind verpflichtet, die veränderte Gefährdungslage zu berücksichtigen. Der Expertenkreis „CyberMed“ innerhalb der „Allianz für Cyber-Sicherheit“ sollte deshalb als Referenzgremium für die Cybersicherheit von Medizintechnik ausgebaut werden. Der Expertenkreis initiiert einen regelmäßigen Austausch zwischen Vertretern von Industrie und Anwendern sowie Behörden. Ziel ist es, dass Betreiber zukünftig bereits frühzeitig im Beschaffungsprozess produktbegleitende Informationen über die implementierten Cybersicherheitsmaßnahmen in Medizingeräten in standardisierter Form erhalten.
Um Patienten einen schnellen Zugang zu innovativen und digitalen Versorgungsangeboten zu gewähren, sind transparente und verlässliche Wege in die Regelversorgung im GKVSystem notwendig. Jedoch sind die bestehenden gesetzlichen Vorgaben oftmals nicht mehr zeitgemäß: zu langwierig, methodisch zu kompliziert und zu kostenintensiv. Auch die kurzlebigen Innovationszyklen digitaler Angebote werden dabei nicht ausreichend berücksichtigt.
Ein wichtiger Schritt ist es, die retrospektive Nutzenbewertung als weiteren Weg zur Evidenzerzeugung zu ermöglichen. Nach einer Potenzialbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss sollte deshalb eine befristete Erstattung im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung möglich sein, die von einer Evaluierung begleitet wird.
Oberstes Kriterium ist und bleibt der Nachweis eines Patientennutzens. Bis dato werden fast ausschließlich randomisierte, kontrollierte Studien (RCTs) als Evidenznachweis akzeptiert. Deshalb ist es notwendig, dass Forschungsprojekte zur zukünftigen Berücksichtigung von weiteren Nutzen- bzw. Surrogatparametern und deren Nachweis als Alternative zu RCTs angestoßen werden.
Verträge zur Integrierten Versorgung (IV) waren als innovationsfreundliche Alternative zur Regelversorgung angedacht, sind aber aufgrund einer übermäßigen Regulierung weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Um diesen Umstand zu ändern und digitale Lösungen schneller in die Versorgung bringen zu können, ist es notwendig, den § 140 a-d SGB V zu entbürokratisieren und damit mehr Vertragsfreiheit zu gewähren. Außerdem sollte die Übernahme erfolgreicher IV-Modelle, die mit einer spezifisch dafür modifizierten Nutzenbewertung evaluiert wurden, in die Regelversorgung durch eine gesetzliche Regelung unterstützt werden.
Der elektronische Datenaustausch zwischen allen Sektoren setzt voraus, dass das Kommunikationsverfahren möglichst einheitlich und transparent ausgestaltet ist. Die Grundlage dafür bilden Standards und Normen, die unter Beteiligung aller interessierten Kreise in einem definierten Prozess gemeinsam erarbeitet und veröffentlicht werden.
Der Kassenärztlichen Bundesvereinigung wurde die alleinige Entscheidungsbefugnis für die semantische und syntaktische Interoperabilität von Daten übertragen. Vor dem Hintergrund der Komplexität dieser Aufgabe müssen jedoch die Kompetenzen aller Stakeholder des Gesundheitssystems gleichberechtigt berücksichtigt werden. Hier bedarf es also einer gemeinsamen Übernahme von Verantwortung auf Basis der individuellen Kompetenzen, die zum Beispiel unter dem Dach einer nationalen Koordinierungsstelle eHealth gebündelt werden könnten. Alle Akteure des Gesundheitssystems sollten gemeinsam effiziente, sektorenübergreifende, interoperable Abläufe beschreiben und daraus technische Spezifikationen auf Basis internationaler Standards festlegen. Die festgelegten Spezifikationen sollten die Voraussetzungen für die Anbindung an die Telematikinfrastruktur erfüllen.
Es braucht keine Organisation, die neue Standards setzt oder entwickelt, sondern eine Organisation, die längst vorhandene und international bewährte Standards für konkrete Anwendungsfälle in Deutschland verbindlich festlegt und das vorhandene Wissen über die beste Lösung koordiniert und moderiert. Voraussetzung dafür ist eine angemessene deutsche Beteiligung in internationalen Standardisierungsgremien. Eine öffentliche Förderung für Mitarbeiter aus Wissenschaft und medizinischer Versorgung für die Beteiligung an internationaler Normungsarbeit und die Mitarbeit in der nationalen Koordinierungsstelle eHealth stellt die notwendige Fachexpertise und die Beteiligung der Anwender sicher.
Die Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft darf in Deutschland keinen nationalen Sonderweg einschlagen, sondern muss im europäischen und internationalen Kontext betrachtet werden. Dies gilt insbesondere für den verantwortungsvollen Umgang mit Daten und den Schutz der Persönlichkeitsrechte sowie für den Bereich der IT-Sicherheit. Gerade für Gesundheitsdaten gilt ein besonders hohes Schutzniveau.
Ziel der DSGVO ist eine europaweite Harmonisierung und Modernisierung des Datenschutzrechts. Damit ein einheitlicher europäischer Rechtsrahmen nicht durch nationale Ausnahmeregelungen ausgehebelt wird, muss Deutschland seine eigenen Vorschläge durch aktive Mitarbeit, wie früher in der Artikel-29-Datenschutzgruppe, jetzt im Europäischen Datenschutzausschuss einbringen.
Um deutsche Forscher und Unternehmen der Gesundheitswirtschaft zu unterstützen, sollte Deutschland in der EU einen Vorschlag zur Schaffung eines „Digital Single Market for Health“ (DSM-H) einbringen. Damit sollen regulierungsbedingte Barrieren zwischen den nationalen Gesundheitsmärkten der EU-Mitgliedstaaten abgebaut werden.
Die vernetzte Medizin schafft die Möglichkeit, eine zunehmende Zahl von Daten miteinander zu verbinden, um neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse in die Therapien einfließen zu lassen. Voraussetzung ist der Zugang zu strukturierten Datensätzen, die in ausreichender Zahl in keinem Mitgliedstaat der EU allein erzeugt werden können. Um diese Datensätze grenzüberschreitend zusammenführen zu können, benötigt die Medizin eine eindeutige und weitverbreitete Terminologie, wie SNOMED-CT. Ohne solch ein Terminologiesystem gibt es keine effiziente, interoperable Kommunikation und keine verlässlichen Zugriffs- und Auswertungsmöglichkeiten in Bezug auf alle wichtigen Patientendaten, weder innerhalb der Europäischen Union noch weltweit. Dies gilt insbesondere für Forschungs- und Versorgungszwecke, an denen sowohl die deutsche Wissenschaft als auch die industrielle Gesundheitswirtschaft ein besonderes Interesse hat. Deshalb ist die SNOMED-CT-Lizenz für den Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Deutschland unerlässlich.
Die Digitalisierung wird zu einer stärkeren Vernetzung der Patientenversorgung beitragen. Arztpraxen, Krankenhäuser, Apotheken und Gesundheitsfachberufe werden leichter und effizienter Informationen austauschen können. Dadurch ergeben sich neue Formen der Zusammenarbeit zum Wohle der Patienten. Der Einsatz dieser Technologien verändert aber nicht nur die Beziehungen und Interaktionen zwischen Patienten und Behandelnden. Sie wirkt sich auch auf die Kooperation zwischen Ärzten und anderen Gesundheitsfachberufen aus, etwa durch höhere Anforderungen an die Interdisziplinarität und beim Risiko- und Prozessmanagement. Derzeit sind die Gesundheitsfachberufe noch immer nicht ausreichend auf die Herausforderungen der digitalen Technologien im Gesundheitswesen vorbereitet.
Als Voraussetzung für die Anwendung von digitalen Lösungen muss Grundwissen zur Datenanalyse und Datenmanagement in allen Ausbildungsgängen der Gesundheitswirtschaft integriert sowie vorhandenes Personal entsprechend weitergebildet werden. Dies muss durch eine bundesweite Kampagne zu „Digital Health Literacy“ für Patienten und Bürger unterstützt werden. Die Menschen sind nicht länger passive Zuschauer im Behandlungsprozess, sondern sie werden zu Managern ihrer Gesundheit. Dies gelingt ihnen aber nur, wenn sie über alle Chancen und Risiken von Versorgungsmaßnahmen aufgeklärt sind und auf dieser Basis eigenständig eine bewusste Entscheidung treffen können.
Die Kultur des „Data Sharing“ muss allen Teilnehmern der Gesundheitswirtschaft als Leitbild umfassend vermittelt werden. Nur so entsteht die Bereitschaft, Daten immerzu qualitativ hochwertig zu erfassen, für andere als die eigenen Zwecke zur Verfügung zu stellen und so zur Verbesserung der Versorgung beizutragen.
Um die unmittelbar in der Versorgung tätigen Personen zu entlasten, muss das Berufsprofil für einen „Medical Data Scientist“ entwickelt und in die Versorgungsstrukturen eingebunden werden.
In einem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem werden zunehmend die Vor-, aber insbesondere auch die Nachteile von zugänglichen Patienten- und Versorgungsdaten für den Einzelnen oder die Gesellschaft sowie Auswirkungen auf die Solidargemeinschaft diskutiert. Umso wichtiger ist die Aufklärung der Öffentlichkeit darüber, wie ein verantwortungsbewusster Umgang mit Daten aussieht und welcher Patienten- und gesellschaftlicher Nutzen dadurch entsteht.
Deutschland braucht eine stärkere öffentliche Debatte darüber, inwieweit die Digitalisierung das Solidarprinzip verändert. Die Menschen brauchen Klarheit darüber, welche Vor- oder auch Nachteile das Teilen ihrer eigenen Gesundheitsdaten mit sich bringt. Deshalb ist es wichtig, die Menschen aktiv in diese Debatte einzubinden.
Datenschutz und IT-Sicherheit sind zwei wesentliche Herausforderungen, die bei der Digitalisierung bewältigt werden müssen. Die Menschen werden einer datenbasierten Gesundheitsversorgung nur dann zustimmen, wenn keine Gefahr für ihre Persönlichkeitsrechte besteht. Eine nationale Kampagne durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung stärkt die Entscheidungsfähigkeit eines jeden einzelnen Menschen.
Viele Menschen sind dazu bereit, ihre Gesundheitsdaten für Forschungs- und Versorgungszwecke zur Verfügung zu stellen. Dies ist wegen der engen Zweckbindung der Einwilligung zur Datenverarbeitung aber nur schwer möglich. Deshalb soll eine bundesweite Vertrauensstelle für Gesundheitsdaten eingerichtet werden. Über diese Vertrauensstelle können die Menschen ihre Gesundheitsdaten für weitere Forschungs- und Versorgungszwecke zur Verfügung stellen.