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22.06.2022
Die Elektro- und Digitalindustrie stellt das technologische Rückgrat für die Energiewende. Denn der Schlüssel zum Erreichen der nationalen und europäischen Klimaziele – Klimaneutralität bis zur Mitte dieses Jahrhunderts – ist die Verzahnung von Elektrifizierung und Digitalisierung. In den kommenden Jahren muss die Emissionsreduktion in der Industrie sechsmal schneller erfolgen als in den vergangenen 20 Jahren (BCG-Studie). Wer Klimaschutz ernst meint, der muss daher auf die drei Säulen der Elektrifizierung hinarbeiten: Den Ausbau erneuerbarer Energien, die Digitalisierung des Energiesystems und eine mutige Reform der Strompreise.
Die Elektrifizierung beschreibt die Verdrängung von fossilen Energieträgern aus der Industrie, dem Verkehr und Gebäuden mittels grünen Stroms. Dabei wird Strom, wo immer möglich, direkt genutzt, um maximale Effizienz zu gewährleisten. Als Stromspeicher oder wo eine direkte Anwendung von Strom nicht möglich oder ökonomisch sinnvoll ist, muss durch grünen Strom erzeugter Wasserstoff oder emissionsfreier, synthetischer Kraftstoff zum Einsatz kommen. Die Elektrifizierung ist der Weg in eine CO2-neutrale Industriegesellschaft – Strom der Rohstoff der Energiewende, der über 90 Prozent des Energiebedarfs im Jahr 2045 deckt. Die Elektrifizierung steigert daher den Stromverbrauch auch erheblich. Allein bis zum Jahr 2030 wird der Strombedarf u. a. durch 15 Millionen Ladepunkte und ca. 6 Millionen Wärmepumpen auf 722 TWh steigen. Bis zum Jahr 2045 wird er sich nahezu auf etwa 990 TWh verdoppeln. Der Ausbau erneuerbarer Energien stellt somit eine zentrale Säule der Elektrifizierung dar. Der Ausbau von Wind- und Solarenergie muss sich in etwa verdoppeln, Planungs- und Genehmigungsverfahren müssen signifikant beschleunigt und PPAs vereinfacht werden.
Einem gesteigerten Strombedarf steht jedoch eine massive Reduktion des Primärenergiebedarfs um 40 - 50 Prozent (verglichen mit 2019) gegenüber. Hier zahlt sich aus, dass erneuerbar erzeugter Strom, insbesondere wenn dezentral erzeugt, nahezu verlustfrei genutzt werden kann. Grüner Strom ermöglicht also den Verbrauch von Primärenergie in der Endanwendung. Zusätzlich werden Produkte, die mit Strom betrieben werden, immer effizienter und weisen wesentlich höhere Wirkungsgrade auf als die Verbrennung fossiler Brennstoffe zur Energiegewinnung. Und das Energieeffizienzpotenzial von Stromanwendungen ist noch längst nicht erschöpft.
Die grüne Elektrifizierung ist damit Wirkungsgradchampion der Energiewende und der Ausbau der erneuerbaren Energien ihre erste Säule.
Damit die Elektrifizierung unserer Gesellschaft gelingt, reicht es jedoch nicht aus konsequent in den Ausbau der Erzeugungsleistung erneuerbarer Energien, also vornehmlich Solar- und Windenergie, zu investieren. Mit einem erhöhten und intermittierenden Strombedarf müssen auch die Transportwege – die Stromnetze – ertüchtigt und eine dezentrale Einspeisung elektrischer Energie auf allen Spannungsebenen ermöglicht werden. Oberste Maxime sollte dabei sein, die vorhandene Infrastruktur so hoch wie möglich auszulasten, bevor ein physischer Netzausbau stattfindet. Das bedeutet, Lastspitzen, also eine hohe, gleichzeitige Stromentnahme aus dem Netz, gezielt auf einen längeren, von niedrigeren Lastflüssen geprägten Zeitraum zu verteilen. Damit dies geschehen kann, ist eine umfassende Digitalisierung der Stromnetze und der Verbraucher – über digitale Netzanschlusspunkte bestehend aus Smart Meter Gateway (SMGW) mit aktiver Steuerung über ein Home Energy Managementsystemen (HEMS), Lademanagementsystemen bzw. entsprechenden Systemeinheiten – nötig, sodass Netzzustände in Echtzeit erhoben werden und Verbraucher ihren Energiebezug zeitlich optimieren können. Diese ‚Flexibilität‘ sollte sich im Jahr 2030 bereits auf über 60 GW belaufen. Denn je größer die Flexibilität, desto geringer der Bedarf an gesicherter Leistung und physischem Stromnetzausbau. Flexibilität senkt also die Kosten des Stromsystems insgesamt und ist ferner eine Bedingung für das Erreichen der Klimaziele (z. B. aufgrund der fehlenden Fachkräfte im Handwerk für das Verlegen von Leitungen oder dem Bau von H2-ready Gaskraftwerken für mehr gesicherte Leistung) und der Versorgungssicherheit, insbesondere bei einem Kohleausstieg vor 2038. Um die Durchführung wirksamer Modernisierungsmaßnahmen in den Netzen und deren Begleitung insbesondere durch ein Monitoring des Digitalisierungsgrads und der Fortschritte zur „Beobachtbarkeit“ zu fördern, sollte ein Smart-Grid- Readiness-Indikator (SGRI) eingeführt werden. Ein SGRI könnten darüber hinaus heutige Engpässe in den Netzen aufzeigen und somit Schwerpunkte für Investitionen in Digitalisierung identifizieren. Es müssen ferner Digitalisierungsinvestitionen in den Verteilnetzen durch Anpassung der Anreizregulierungs-Verordnung (ARegV) umlagefähig deklariert werden, u. a. um eine stärkere Durchdringung der Netze mit Sensorik und Aktorik zu erreichen.
Die konsequente Digitalisierung des Stromsystems ist die zweite Säule der Elektrifizierung.
Nebst der Verfügbarkeit von grünem Strom und der technischen Infrastruktur für dessen flexiblen Bezug benötigen Verbraucher ökonomische Anreize auf Stromanwendungen umzustellen (z. B. die Wärmepumpe oder Power-to-Heat Anlagen in der Industrie), Strom dann zu verbrauchen, wenn der Strommix besonders grün ist und ihren Strombezug netzdienlich, also flexibel und zur Vermeidung von Lastspitzen beitragend, zu gestalten. Ein CO2-Preis allein reicht dazu nicht aus. Zumal der nationale CO2-Preis für den Verkehr und die Gebäude viel zu niedrig sind, um einen ‚fuel switch‘ anzureizen. Strom muss breit entlastet werden: Nach Abschaffung der EEG-Umlage muss die Energiesteuer neu ausgerichtet und für erneuerbaren Strom gegen Null gehen. Eine Absenkung der Mehrwertsteuer auf Strom wäre ein einfaches und schnell umzusetzendes Instrument, das zusätzlich zum Tragen kommen sollte. Klimaschutzverträge sollten ausgewählten Sektoren vorbehalten sein, projektbezogen abgeschlossen werden und die Elektrifizierung nicht über etwaige Umlagen zulasten von Strom oder Elektrifizierungstechnologien behindern. Essenziell ist eine strukturelle Reform der Abgaben, Umlagen und Steuern für Strom. Andernfalls droht z. B., dass auf absehbare Zeit Power-to-Heat-Anwendungen ca. viermal teurer sein werden als der Einsatz von Erdgas.
Des Weiteren müssen dynamische Strompreise zur besseren Integration von erneuerbaren Energien Marktsignale für Speicher und Verbrauchseinrichtungen setzen. Voraussetzung ist, dass Verbraucher durch intelligente Netze und Zählersysteme in die Lage versetzt werden, Strom flexibel zu beziehen. Technisch spricht schon heute nichts dagegen Wärmepumpen, Batteriespeicher oder Ladestationen vergünstigt mit regenerativer Energie zu versorgen, wenn diese in hohem Maße verfügbar ist. Ökonomisch verhindert das aktuelle Strommarktdesign aus Abgaben, Umlagen und Entgelten jedoch das Preissignale beim Verbraucher ankommen, obwohl in Anbetracht von Stromgestehungskosten und CO2-Bepreisung erneuerbare Energien, wenn ausreichend verfügbar, günstiger sind als fossile Alternativen. Kommen Preissignale beim Verbraucher an, entsteht sowohl ein Anreiz zum optimierten, flexiblen Verbrauch als auch ein Anreiz für eine flexible Angebotsseite.
Die Netzentgelte nehmen gleich in mehrfacher Hinsicht eine gesonderte Rolle ein. Mit knapp 25 Prozent machen sie schon heute den größten Teil des Strompreises aus und sind andererseits Ausdruck der umlagefähigen Investitionen der Stromnetzbetreiber – müssen also tendenziell mit der Ertüchtigung der Netze und deren Digitalisierung steigen. Gleichzeitig müssen Netzentgelte zukünftig in Abhängigkeit der tatsächlichen Netznutzung, also zeit- und lastvariabel, ausgestaltet werden, um einen flexiblen Strombezug ökonomisch lohnend zu stellen. So ließen sich über Flexibilitätsmärkte die Stromsystemkosten und explizit auch die Kosten für die Stromnetze reduzieren, was wiederum den Anstieg der Netzentgelte dämpfen würde. Ohne Reform der Netzentgeltsystematik werden die Netzentgelte bis zum Jahr 2030 um > 40 Prozent steigen. Die nachhaltige Finanzierung der Netze bestimmt die Schaffung von Flexibilitätsmärkten zum Erreichen der Klimaziele, indem Preise für Investitionen in die Stromnetze (technische Voraussetzungen) und Strombezug (wettbewerbsfähig, flexibel - ökonomische Voraussetzungen) gesetzt werden. Eine umfassende Strompreisreform, mit einer Neuausrichtung der Stromnetzentgelte, ist die dritte Säule der Elektrifizierung.