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07.11.2024
1962 hat der niederländische Ökonom Jan Tinbergen – einer der ersten beiden Wirtschaftsnobelpreisträger überhaupt – Newtons Gravitationsgesetz der Physik auf den Außenhandel übertragen. Seine Arbeiten haben den empirisch robusten Zusammenhang aufgezeigt, dass bilateraler Handel positiv von der Größe der Volkswirtschaften beeinflusst wird und negativ von ihrer räumlichen Entfernung.
Einfach ausgedrückt: Handel treibt man vor allem mit Nachbarn sowie großen Ländern.
Bereits Anfang dieses Jahres hat das McKinsey Global Institute den Untersuchungsrahmen in einer Analyse erweitert und neben der geografischen auch die „geopolitische“ Distanz der Länder betrachtet. Dabei stehen sich auf einer Skala von null bis zehn die USA und Iran an den Rändern gegenüber. Alle anderen rund 150 berücksichtigten Staaten werden dazwischen einsortiert, Brasilien findet sich beispielsweise genau in der Mitte bei fünf. Deutschland liegt hier sehr nah an den USA, China an Iran. Beim Handel zwischen Deutschland und Iran etwa gilt es also, eine ziemlich große geopolitische Entfernung zu überwinden.
Die Studie kommt zu interessanten Ergebnissen. So treiben die europäischen Länder vor allem untereinander Handel – wenn man so will: Sie engagieren sich bei benachbarten Freunden. Australien dagegen hat es mit Handelspartnern zu tun, die sowohl räumlich als auch geopolitisch weit weg sind. Die USA befinden sich irgendwo in der Mitte. Verglichen mit China müssen die Vereinigten Staaten im Schnitt zwar größere geografische Entfernungen zu ihren Handelspartnern in Kauf nehmen, aber deutlich geringere geopolitische. Was letztere betrifft, hat es eigentlich nur Nicaragua noch weiter als China.
Die Studie sieht erste Anzeichen von „Friendshoring“. Seit 2017 haben China, Deutschland, UK und die USA ihre jeweiligen im Außenhandel zu überbrückenden geopolitischen Distanzen um vier bis zehn Prozent reduziert – teils unter Inkaufnahme größerer räumlicher Strecken zu alternativen Auslandsmärkten.
Aber auch Grenzen und Nachteile von Friendshoring werden beschrieben. Wo es keine oder lediglich sehr wenige andere Anbieter gebe – man denke hier z.B. an Eisenerz aus Australien oder Seltene Erden aus China –, ließen sich ideologische Rivalen praktisch kaum umgehen. Zudem könne die Verkürzung geopolitischer Distanzen zu mehr Risiken in den Liefer- und Wertschöpfungsketten führen. Wenn man am Ende weniger Handelspartner hat, ist man schlechter diversifiziert. So rechnet die Studie vor, wenn Zölle und andere Handelshemmnisse die geopolitischen Entfernungen im globalen Handel um ein Viertel reduzieren würden, nähme die Importkonzentration um durchschnittlich 13 Prozent zu.
Für Länder in der Mitte der geopolitischen Distanzskala – also die zwischen 2,5 und 7,5, wozu Brasilien, Indien, Mexiko oder die Türkei zählen – habe Friendshoring wenig Charme. Da ihre zusammengenommene Handelsmacht letztlich noch zu gering sei, führen sie besser damit, zu allen Seiten offen zu bleiben. Und so machen sie es heute ja auch. Auch für China habe Friendshoring Grenzen, weil das Land schlichtweg zu groß sei, um nicht auf gleicher Linie liegende westliche Industrieländer als Handelspartner zu meiden.
Bleibt noch festzuhalten, dass die geopolitischen Distanzen – anders als die räumlichen – mit der Zeit variabel sind. Daraus macht der Report aber auch keinen Hehl.
Dr. Andreas Gontermann