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20.11.2019
Auf die globale Finanzkrise, die sich zwischen 2007 und 2009 entfaltet hat, folgte ab 2010 die Euro-Schuldenkrise – eine vielschichtige Staatsschulden-, Banken- und Wirtschaftskrise im gemeinsamen Währungsraum. Es zählt ganz sicher zu den Verdiensten der Europäischen Zentralbank (EZB), dass die Eurozone diese Krise überwinden konnte. Zeitweilig war die EZB die einzige noch handlungsfähige Institution.
Dabei wäre es eigentlich Aufgabe der Regierungen (gewesen), die Währungsunion zu reformieren und krisenfest zu machen. Insoweit ist es auch unredlich, wenn die Notenbank heute zum Sündenbock gemacht wird, etwa weil sie angeblich die Sparer enteigne. Die Bundesbank hat kürzlich vorgerechnet, dass die Niedrigzinspolitik der EZB dem deutschen Staat in der Dekade bis 2018 gut 368 Milliarden Euro an Ausgaben erspart hat. Das entspricht fast dem doppelten Jahresumsatz der deutschen Elektroindustrie.
Allerdings dauert die Phase der sehr expansiven Geldpolitik – mit Nullzinsen und dem massiven Ankauf von Staatsanleihen mit frisch gedrucktem Geld – nun schon ziemlich lange an. Bald könnte ein Punkt erreicht sein, wo die Nebenwirkungen des billigen Geldes überhand nehmen und seine Nachteile die Vorteile überwiegen.
So geraten die Zinsmargen der Geschäftsbanken zunehmend unter Druck. Je höher die Strafzinsen auf Einlagen bei der EZB sind, desto näher rückt der Punkt, ab dem es sich lohnt, diese abzuheben und bar vorzuhalten. Es gibt Untersuchungen, nach denen Bargeldreserven ab einem Strafzins von 0,7 Prozent tatsächlich die kostengünstigere Variante darstellen. Aktuell liegt er bei 0,5 Prozent. Werden die Negativzinsen an Kunden weitergegeben – was zum Teil ja bereits passiert –, könnten diese ihr Geld irgendwann geballt abheben.
In einer nächsten Rezession wäre die Geldpolitik wohl nur noch begrenzt handlungsfähig, weil kaum mehr Zinssenkungsspielräume existieren. Der Ankauf von Staatsanleihen ist ohnehin schon äußerst umstritten. Nicht wenige sehen die Grenze zur eigentlich verbotenen monetären Staatsfinanzierung bereits überschritten. Würde man ihn ausweiten – gegebenenfalls auch auf Aktien – wäre mit umso mehr rechtlichen Fragezeichen und politischen Widerständen zu rechnen. Dann wäre die Fiskalpolitik stärker gefordert.
Zwar liegt die Inflationsrate im Euroraum unterhalb der Zielmarke von knapp zwei Prozent. Aber wie dramatisch ist das eigentlich, wenn die Preise nur um rund ein Prozent steigen? Droht dann tatsächlich schon eine Deflation? Mal abgesehen davon, dass man es hier auch mit statistischen Messproblemen zu tun hat – beispielsweise werden Qualitätsminderungen kaum adäquat berücksichtigt. Einer Analyse der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zufolge haben Phasen leicht fallender Preise in der Vergangenheit keine größeren Probleme hervorgerufen. Außerdem kann man streiten, ob sich die Inflation zwar nicht in den Güterpreisen, dafür aber in den Vermögenspreisen niedergeschlagen hat – etwa bei Immobilien oder Aktien. Das birgt die Gefahr von Korrekturen mit entsprechenden Auswirkungen auf die Finanzmarktstabilität.
Die volkswirtschaftliche Steuerungsfunktion des Zinses besteht darin, knappes Kapital – unter Berücksichtigung von Risikogesichtspunkten – dahin zu lenken, wo es die höchsten Renditen erzielen kann. Bei allgegenwärtigen Nullzinsen kommt diese Funktion abhanden. Wenn dann Unternehmen am Markt bleiben, die sonst keinen Kredit mehr bekämen, wird der Wettbewerb verzerrt. Anreize für Innovationen gehen verloren. Die gesamtwirtschaftliche Produktivität wird ausgebremst.
Schließlich nimmt die Niedrigzinspolitik Reformanreize für Staaten. Wenn die Geldpolitik alles daran setzt, konjunkturelle Abschwünge zu verhindern, unterminiert sie mitunter eigentlich notwendige strukturelle Anpassungen und damit die langfristigen Wachstumsaussichten.
Die Liste ließe sich fortsetzen.
Die Geldpolitik der EZB ist mittlerweile total überfrachtet. Das Mandat der Notenbank lautet auf Wahrung der Preisstabilität – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Weil sämtliche Vermögenspreise zinsabhängig sind, ist ein Ausstieg aus der ultra-lockeren Geldpolitik alles andere als trivial. Dass die Zentralbanken hiervor allergrößten Respekt haben, ist mehr als verständlich. Dennoch sollte der Einstieg in den Ausstieg aus der unkonventionellen Politik eingeleitet werden, wenn auch sicherlich langsam und ganz behutsam. Nur so lässt sich Finanzstabilität sichern, der geldpolitische Werkzeugkasten für die nächste Rezession wieder bestücken und die Arbeitsteilung mit der Fiskalpolitik wieder ins Lot bringen.
Dr. Andreas Gontermann