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22.09.2022

Inflation (in der Türkei)

Seit mehr als einem Jahr steigen weltweit die Preise. Von dem Gedanken, es handele sich dabei nur um ein vorübergehendes Phänomen, hat man sich schon verabschieden müssen. So hat Russlands Angriffskrieg in der Ukraine die Herausforderungen angebotsseitiger Störungen infolge der globalen Corona-Pandemie noch weiter verschärft. Welche Probleme (viel zu) hohe Inflationsraten auslösen, lässt sich am Beispiel der Türkei beobachten, das im Exportabnehmer-Ranking der deutschen Elektro- und Digitalindustrie auf Platz 17 steht.

Etliche Länder schlagen sich derzeit mit hohen Preissteigerungen rum. In Europa und den USA hat zuletzt nicht mehr viel für Inflationsraten von zehn Prozent gefehlt. Besonders stark legen die Verbraucherpreise aktuell in der Türkei zu, nämlich um bereits 80 Prozent. Schuld daran ist hier vor allem die (unorthodoxe) Geldpolitik. Sie wird massiv von Präsident Erdogan beeinflusst, der tatsächlich zu glauben scheint, hohe Zinsen seien der Grund für anziehende Preise statt eines probaten Mittels dagegen. Dazu passt, dass die türkische Notenbank ihren Leitzins Mitte August weiter auf jetzt 13 Prozent senken musste.

Inflationsraten, die weit über die meist angestrebten plus zwei Prozent hinausgehen, haben viele nachteilige Folgen. Drei Probleme stechen allerdings besonders heraus, und sie sind in der Türkei bereits virulent.

Erstens beeinträchtigt Inflation die Entscheidungsfindung. Preise haben in Marktwirtschaften eine allokative Signal- bzw. Steuerungsfunktion. Sie sollen echte Knappheiten anzeigen und begrenzte Ressourcen dahin lenken, wo sie den größten Nutzen resp. Ertrag generieren. Aber wenn etwa Unternehmen nicht mehr unterscheiden können, ob Preissteigerungen auf eine geänderte Konstellation von Angebot und Nachfrage zurückgehen oder der allgemeinen Geldentwertung geschuldet sind, geht diese zentrale Funktion verloren. Preise ständig neu aushandeln zu müssen, ist mühsam. Zudem kann das Verhältnis von Firmen und Zulieferern, Anbietern und Kunden, Mietern und Vermietern etc. dadurch nachhaltig Schaden nehmen.

Zweitens verkürzt Inflation den Planungshorizont. Nur solange die Preise stabil sind, lässt sich verlässlich und langfristig nach vorne schauen. Andernfalls bleiben weiter in die Zukunft gerichtete Konsum- und Investitionsentscheidungen aus – mit entsprechenden Nachteilen für das Wachstumspotenzial der Volkswirtschaft. Wenn Lieferanten keine Zahlungsziele mehr einräumen, weil sie nicht wissen, wie viel ihre offenen Forderungen in ein paar Tagen oder Wochen real noch wert sind, werden informelle Kreditbeziehungen und damit auch Vertrauen im Geschäftsleben untergraben. In der Türkei versteht man unter der langen Frist inzwischen den nächsten Monat.

Schließlich und drittens führt Inflation zu einer mehr oder weniger willkürlichen Umverteilung von Einkommen und Vermögen. Letztlich wirkt sie doch wie eine „Steuer“ auf den Besitz von Geld(-forderungen). Player mit mehr Marktmacht können sich dieser Art von Besteuerung vergleichsweise besser entziehen. Auch ist nicht jeder in der Lage, sein Erspartes in Sachwerte wie Immobilien oder harte Fremdwährungen zu verschieben. In der Türkei haben die gestiegenen Preise die Kaufkraft so weit ausgehöhlt, dass mehr als ein Drittel der Bevölkerung Grundbedürfnisse kaum mehr decken kann. Der Anteil derjenigen, die so gerade noch zurechtkommen, liegt inzwischen bei vier Fünfteln und schließt somit auch weite Teile der Mittelschicht ein.

Vor dem Hintergrund der schädlichen Auswirkungen von Inflation hat der Internationale Währungsfonds in seinem jüngsten Weltwirtschaftsausblick betont, die Inflationsbekämpfung müsse oberste Priorität haben. Je länger man damit warte, desto schärfere Einschnitte seien später erforderlich.
 

Dr. Andreas Gontermann

Konjunktur & Märkte

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