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23.07.2020
Dank mehr oder weniger unabhängiger Zentralbanken sowie struktureller Faktoren wie einer zunehmend globalisierten Wirtschaft ist Inflation in den Industrieländern in den letzten vier Jahrzehnten praktisch kein Thema gewesen. Ganz anders als in den 1970er Jahren lagen die Preissteigerungsraten oftmals eher unter den meist anvisierten knapp zwei Prozent als darüber.
Im Geleit der Corona-Krise kommen nun mancherorts Befürchtungen hoch, die Zeiten moderater Inflationsraten könnten womöglich bald vorbei sein. Grob gesagt entsteht Inflation immer dann, wenn zu viel Geld zu wenigen Gütern und Dienstleistungen hinterherjagt. Tatsächlich könnte man meinen, dass die Pandemie alle Zutaten hierfür bereithält: Einerseits hat der zeitweise Lockdown der Wirtschaft das Güterangebot zwangsweise heruntergedrückt, und Probleme in Lieferketten haben dazu geführt, dass Waren erst gar nicht in die Regale kamen. Andererseits betreiben Notenbanken und Regierungen massiv expansive Geld- und Fiskalpolitik, wobei die Rettungspakete schlussendlich mit frisch gedrucktem Geld finanziert werden. So steht die Bilanzsumme der EZB inzwischen bei rund der Hälfte des BIP und die der amerikanischen Fed bei über einem Drittel. Im dritten Quartal 2007 lagen die Relationen erst bei rund zwölf bzw. sechs Prozent.
Nun könnte es allerdings – Gelddrucken hin oder her – auch passieren, dass am Ende des Tages weniger Güter auf noch weniger geplante Ausgaben treffen. Denn wo Produktion und Dienstleistungen heruntergefahren werden müssen, da entsteht kein Einkommen und damit auch keine Nachfrage mehr. Zwar mögen einige Sektoren zu Gewinnern der Krise avancieren, sodass hier mehr Einkommen und dadurch wiederum mehr Nachfrage generiert werden kann. Was aber zählt, ist unterm Strich. Und wenn anfängliche Restriktionen auf der Angebotsseite der Wirtschaft die Nachfrage soweit runterziehen, dass diese am Ende stärker sinkt als das Angebot, dann hat man es mit einem keynesiansichen Angebotsschock zu tun – benannt nach dem großen Ökonomen John Maynard Keynes. Die Folge wäre dann Deflation und nicht Inflation.
Ein gemeinsames Forschungspapier von vier Ökonomen US-amerikanischer Universitäten (Chicago, Harvard, MIT und Northwestern) legt nahe, dass wir uns aktuell tatsächlich eher in so einem Szenario befinden. Es argumentiert zudem, dass die Verbraucher angesichts der gegenwärtig belastenden Situation künftigen Konsum höher einschätzen könnten als heutigen, weshalb sie sich jetzt umso mehr mit Käufen zurückhielten.
Jüngste Daten scheinen die These soweit zu stützen. In der Eurozone lag die Inflationsrate im Juni gerade einmal bei 0,3 Prozent. In den USA ging sie im April sogar um 0,8 Prozent zurück. An den Kursen einschlägiger Finanzmarktinstrumente lässt sich ebenfalls ablesen, dass Anleger für die Zukunft eher weniger als mehr Inflation erwarten.
Freilich können sich die Erwartungen auch wieder ändern, und das recht schnell. Dies wird wohl aber erst passieren, wenn das Coronavirus wirklich trockengelegt ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich Regierungen und Zentralbanken zunächst dazu entschlossen, einem hohen Wirtschaftswachstum und geringer Arbeitslosigkeit den Vorrang vor niedriger und stabiler Inflation zu geben. Je nachdem, welch tiefe Spuren die Pandemie hinterlassen wird, könnte dies nach der Krise mitunter auch wieder einmal der Fall sein. Und wenn dann noch strukturelle disinflationäre Kräfte nachlassen, Stichwort: De-Globalisierung, dann wären wieder höhere Inflationsraten womöglich gar nicht mal so weit hergeholt.
Dr. Andreas Gontermann