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12.04.2022
Dank der Sanktionen und Boykotte, die der Westen gleich nach Kriegsbeginn gegen Russland forciert hat und weiter verschärft, drohen dem Land erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen. Die Inflation schnellt in die Höhe. Das BIP könnte stark einbrechen, verbunden mit zunehmender Arbeitslosigkeit.
Nach der Staatspleite im August 1998, dem Überfall auf Georgien im Juli 2008 und der Annexion der Krim im Februar 2014 hat die im Februar 2022 gestartete Invasion in die Ukraine die nunmehr vierte Finanzkrise in weniger als einem Vierteljahrhundert in Russland ausgelöst. Wie passt das eigentlich zu den 630 Milliarden Dollar hohen Devisenreserven, die das Land in den letzten Jahren bewusst und gewollt angehäuft hat, um die heimische Wirtschaft gegen allfällige ausländische Sanktionen zu immunisieren?
Die Idee der weitgehenden Unabhängigkeit wollte Russland realisieren durch mehr Diversifizierung weg von Öl und Gas, weniger Technologie aus – und Handel mit – dem Westen, weniger Verschuldung im Ausland sowie fiskalischer Haushaltsdisziplin und geldpolitischer Strenge im Inland.
Dabei gab es tatsächlich auch einige Erfolge. Als Putin ins Amt kam, machten Öl-Geschäfte noch 15 Prozent vom BIP aus. 2019 waren es nur noch neun Prozent. Der Anteil des Dienstleistungssektors am Sozialprodukt ist zwischen 2000 und 2019 um sieben Prozentpunkte gewachsen. Der Anteil importierter Güter, welche die Weltbank als Hightech-Produkte einstuft, an den gesamten Einfuhren des Landes sinkt deutlich. Das russische Zahlungssystem Mir kommt ohne westliche Technologien aus und hat 2020 ein Viertel aller Kartentransaktionen abgewickelt – nach praktisch null fünf Jahre zuvor.
Von Autarkie kann dennoch keine Rede sein. Viele Investitionsbestände in Russland befinden sich (eigentlich) im Besitz westlicher Firmen. 30 Prozent der Importe – und damit so viel wie 2014 – kommen weiter aus den G7-Staaten. Bei Chips und Computern ist man faktisch immer noch gänzlich abhängig von Zulieferungen aus den USA.
Zwar wurden in den Devisenreserven Dollar durch andere Währungen ersetzt und die Verschuldung in Auslandswährung seit 2014 deutlich zurückgefahren. Trotzdem kommt das Land nicht gänzlich ohne ausländische Investoren aus, und die wollen ihre Assets jetzt auch losgelöst von Sanktionen loswerden, was die Währung massiv unter Druck setzt.
Der Westen hat der russischen Zentralbank den Zugriff auf weite Teile ihrer Währungsreserven – schätzungsweise zwei Drittel – versperrt. Russland hat diesen rigorosen Zug kaum für möglich gehalten, sondern sich in der Annahme gewähnt, stets ungehindert über seine Devisenvorräte verfügen zu können. In der Krise sollte damit eigentlich die Finanzierung von Importen sowie die Stützung des Rubel gewährleistet werden können. Deshalb die Gegenreaktion, für Gas künftig nur noch Rubel akzeptieren zu wollen.
Wie lange dem Land noch hinreichend Devisen aus Rohstoffgeschäften zufließen, ist fraglich. Die USA haben den Import von Öl bereits gestoppt. Und ob das vor allem aus Gold und Yuan zusammengesetzte noch freie Drittel der Reserven wirklich genutzt werden kann, darf wohl bezweifelt werden, denn selbst von den russischen Importen aus China werden noch immer rund 60 Prozent in US-Dollar fakturiert. Und wer sollte das Gold überhaupt kaufen?
Die russische Wagenburg gegen die in ihrer Breite und Tiefe einmaligen Sanktionen hat nicht standgehalten. Ob letztere aber ihr Ziel der Verhaltensänderung und womöglich Machtverschiebung im sanktionierten Land erreichen werden, bleibt (zu h)offen. Längs- und Querschnittsstudien zufolge erreichen im Schnitt ein Drittel der Sanktionen das gesteckte Ziel.
Dr. Andreas Gontermann