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25.02.2021
Es ist wohl keine Übertreibung, die Jahre zwischen 1990 und dem Beginn der Finanzkrise 2008 als Hochphase der Globalisierung zu bezeichnen. In diesem Zeitraum ist der Anteil des Welthandels am globalen Sozialprodukt von unter 40 auf den Rekordwert von über 60 Prozent gestiegen.
Das hat allen voran den Schwellenländern dynamisches Wachstum beschert, indem sie sich in immer internationaler aufgestellte Liefer- und Wertschöpfungsketten einklinken und hier ihre Nischen finden konnten. Zwischen 1995 und 2019 hat sich das kaufkraftbereinigte reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in den Schwellenländern mehr als verdoppelt. In den Industrieländern legte es nur um gut zwei Fünftel zu.
Seit der Finanzkrise ist der Offenheitsgrad der Weltwirtschaft allerdings rückläufig – und könnte es vorerst bleiben. Laut Internationalem Währungsfonds ist der Welthandel 2020 um zehn Prozent geschrumpft und damit deutlich stärker als die globale Wirtschaftsleistung (mit minus dreieinhalb Prozent). Vor dem Hintergrund von Handelsstreitigkeiten und zunehmendem Protektionismus, der Erfahrung von Lieferschwierigkeiten bereits in der ersten Welle der Corona-Pandemie sowie dem Streben nach mehr Souveränität und Autarkie erlebt nun eine industriepolitische Strategie eine Renaissance, die eigentlich schon beerdigt schien: die importsubstituierende Industrialisierung. Hier geht es im Kern darum, Industrieprodukte selbst herzustellen und nicht zu importieren bzw. die heimische Industrie vor ausländischer Konkurrenz zu schützen.
Ironischerweise scheint nicht zuletzt China diesem Ansatz mehr und mehr angetan, obwohl das Land doch massiv von der Hyperglobalisierung und seiner Exportorientierung in den letzten drei bis vier Jahrzehnten profitiert hat. Indien fährt eine ganz ähnliche Kampagne. Weitere Schwellenländer könnten sich daran orientieren.
Die Idee stammt aus den 1950er Jahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg fehlte es vor allem in ärmeren Ländern an Devisen, mit denen man Importe hätte bezahlen können. Einfuhren durch heimische Produkte zu ersetzen, sollte dabei helfen, die Währungsbestände zu schonen. Zudem fürchtete man, Schwellen- und Entwicklungsländer könnten sich nur derart in die internationale Arbeitsteilung einbringen, indem sie sich auf einfachste Produkte spezialisierten, von denen sie dann aber nicht mehr wegkämen und folglich niemals zu den Industrieländern aufschließen würden.
Allerdings haben viele Regierungen diese ökonomischen Überlegungen fehlinterpretiert bzw. politischem Opportunismus und spezifischen Interessen unterworfen und so als Begründung für rigideste protektionistische Maßnahmen genutzt, etwa Zollbarrieren hochgezogen. Länder – vor allem in Lateinamerika – die auf die Strategie importsubstituierender Industrialisierung gesetzt haben, fielen alsbald deutlich hinter andere Staaten zurück, die stattdessen eine Politik der Exportorientierung betrieben – wie die asiatischen Tigerstaaten. Freilich haben auch die Regierungen letzterer teils heftig in ihre Volkswirtschaften interveniert, aber letztlich hat der ausländische Wettbewerb hier Effizienz- und Produktivitätssteigerungen, Innovationen und technologischen Fortschritt befördert.
Es bräuchte schon einen sehr großen Binnenmarkt, um mit einem Ansatz der Importsubstituierung strategische Ziele wie mehr Autarkie und Unabhängigkeit vom Weltmarkt zu erreichen, ohne gleichzeitig den für technischen Fortschritt und wirtschaftlichen Wohlstand notwendigen Wettbewerbsdruck im Inland zu untergraben. China mag diese Größe haben, die Mehrzahl anderer Schwellenländer eher nicht.
Dr. Andreas Gontermann