Grenzüberschreitung

Immer im Takt

In der Schweiz ist ein Zug bereits unpünktlich, wenn er mehr als drei Minuten verspätet ist. Trotzdem ist der Anteil verspäteter Züge nur halb so hoch wie in Deutschland. Hinter dem Erfolg stecken hohe Investitionen in Elektrifizierung und Automatisierung.

 

"Die Schweizer lieben ihre Bahn, manche sogar mehr als ihre Nachbarn.“ Das sagt Moritz Leuenberger, langjähriger Schweizer Verkehrsminister. Darum lassen sich die Eidgenossen ihre Bahn auch etwas kosten. So nahmen die Stimmbürger bereits für Ausbauschritte einen Treibstoffzollzuschlag und eine Kürzung der Pendlerpauschale in Kauf. Weltweit dienen die schweizerischen Eisenbahnen mittlerweile als Benchmark – nicht nur wegen der sprichwörtlichen Pünktlichkeit. Neidvoll blicken Verkehrsplaner aus Nachbarstaaten vor allem auf den Taktfahrplan. Züge aus allen Richtungen treffen nahezu zeitgleich in Knotenbahnhöfen ein, erlauben den Fahrgastwechsel innerhalb weniger Minuten und streben anschließend in alle Richtungen davon. Den Reisenden bringt der Taktfahrplan die Annehmlichkeit des Umsteigens ohne Wartezeit.

Top ist die Schweiz im europäischen Vergleich bei der Infrastruktur, die diese Qualität erst möglich macht. 99,98 Prozent der Strecken sind elektrifiziert, bei den übrigen 0,02 Prozent handelt es sich um Rangier- und Abstellgleise. Zum Vergleich: Die EU-Mitgliedstaaten kommen im Durchschnitt auf 54 Prozent; Deutschland liegt mit 61 Prozent etwas darüber. Was sich heute als klimawirksamer Vorteil erweist, war anfangs aus der Not geboren: Von 1914 bis 1920 verzehnfachte sich der Kohlepreis. Wasserkraft hingegen stand ausreichend zur Verfügung und verbesserte die nationale Wertschöpfung. Das läutete in der Schweiz Jahrzehnte früher als im übrigen Europa den Übergang von Dampf- auf Elektroloks ein. Derzeit fährt die SBB mit 90 Prozent Anteil Wasserkraft – mehrheitlich aus eigenen Kraftwerken. Bis 2025 sollen bei dem Unternehmen 100 Prozent des Bahnstroms aus erneuerbaren Energien kommen.

Europaweit führend sind die Eidgenossen zudem bei der Digitalisierung des Signalsystems. Als Nichtmitglied der Europäischen Union hat die Schweiz als einziges europäisches Land das Netz vollständig mit dem „European Rail Traffic Management System“ (ERTMS) ausgerüstet, zu dem die Zugsicherungstechnik „European Train Control System“ (ETCS) gehört. In EU-Mitgliedstaaten hingegen sind nach 40 Jahren Vorlauf erst zwölf Prozent der Streckenlänge auf den Kernnetz-Korridoren mit ETCS befahrbar. Geldmangel sieht der Monitoringbericht der EU-Kommission als Hauptursache für den Rückstand an. „Geld, viel Geld“ sei hingegen das Geheimnis des Schweizer Bahnerfolgs, verrät Peter Füglistaler, Direktor des schweizerischen Bundesamtes für Verkehr (BAV).

Dennoch sind die Schweizer Bahnen mit dem System nicht rundum glücklich. Es gebe weiterhin Optimierungsbedarf, insbesondere in Knoten oder größeren Bahnhöfen, um dieselbe Kapazität wie mit den vorhandenen Zugsicherungssystemen zu erreichen, räumt ein Unternehmenssprecher ein. Die Verbesserung der Knotenkapazität werde daher einen Schwerpunkt der künftigen Tätigkeit bilden.

Die Schweiz plant aber bereits weiter. So soll der Energieverbrauch schrittweise sinken – um 43 Prozent bis 2035, um 54 Prozent bis 2050. Frank Schleier, Leiter des Lokomotivgeschäfts bei Bombardier Transportation und Vorsitzender des ZVEI-Fachverbands Elektrobahnen und -fahrzeuge, hält daher auch neue Triebfahrzeuge für erforderlich – zumindest aber „Triebfahrzeuge, die bezüglich Energieeffizienz und Signalsystem aufgerüstet werden, um die neuesten Standards zu erfüllen“. Seine Überzeugung: „Mit modernen Schienenfahrzeugen, die mit ETCS ausgerüstet sind, lassen sich die Züge schneller und in kürzeren Abständen durch die Alpentunnel bewegen.“

Das wird auch deswegen nötig sein, weil sich die Verkehrsleistung im Schienenpersonenverkehr seit dem Jahr 2000 um 72 Prozent erhöht hat. Auch Deutschland strebt höhere Fahrgastzahlen an. Sie sollen sich bis 2030 verdoppeln. Die Bundesregierung setzt dabei, inspiriert von der Schweiz, auf den „Deutschland-Takt“. Das erfordert nicht nur viel Geld – Füglistaler sieht auch „Arbeit, viel Arbeit“ auf Deutschland zukommen. Um häufiger und schneller fahren zu können, muss wie in der Schweiz erst einmal zusätzliche Kapazität im Netz geschaffen werden. Immerhin profitiert die Bundesregierung von Schweizer Know-how. Den Zielfahrplan des Deutschland-Takts entwickelt ein Planungsbüro in Zürich.

 

Text Timon Heinrici | Graphik: Foto Pexels/ zhaocan Li, shutterstock/ Fulcanelli

 

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1+2.2021 am 3. Mai 2021 erschienen



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