Die Speerspitze des Fortschritts findet man gelegentlich an unerwarteten Orten. Zum Beispiel im hessischen Haiger, eine Autostunde von Frankfurt am Main entfernt. Dort produziert die Rittal GmbH täglich rund 8.000 Schaltschränke, darunter zehn Prozent individuelle Lösungen. Das Besondere an der Fabrik: Dank Digitalisierung und Automatisierung kann das Unternehmen eine breite Produktpalette äußerst wirtschaftlich produzieren. Ein Großteil der Arbeit wird von Robotern übernommen und autonome Fahrzeuge transportieren das Material von einem Prozessschritt zum nächsten. Digitale Zwillinge und übergreifende Datenräume sorgen für mehr Effizienz – eine Entwicklung, die sich in der gesamten Industrie beobachten lässt. „Wir werden in den nächsten zwei Jahren deutlich mehr Bewegung sehen als in den vergangenen zehn Jahren“, sagt Rittal-CEO Markus Asch mit Blick auf die Digitalisierung voraus (Interview auf Seite 14).
Aktuelle Studien stützen seine Beobachtung. So haben die Unternehmensberater der Staufen AG mehr als 400 Industrieunternehmen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz nach den Topthemen für das Jahr 2023 befragt. Mit 60 Prozent stand die Digitalisierung auf Platz eins, knapp vor der effizienten Wertschöpfung mit 58 Prozent. „Beim Thema Digitalisierung geht es schon lange nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie“, so die Autoren der Studie. Laut Umfrage nennen 85 Prozent der Befragten eine Steigerung der Effizienz als Ziel ihrer Digitalisierungsmaßnahmen, gefolgt von mehr Transparenz in den Abläufen (75 %) und Kostensenkungen (57 %). Neue Geschäftsmodelle wollen derzeit hingegen vorerst nur 35 Prozent umsetzen.
KI als Treiber der Digitalisierung
Hier zeigt sich die Elektro- und Digitalindustrie als Vorreiter: Die ZVEI-Digitalumfrage vom Oktober 2022 belegt, dass digitale Dienstleistungen und Geschäftsmodelle in der Branche bereits heute eine wichtige Rolle spielen. Der Umsatzanteil smarter Produkte stieg von 15 Prozent im Jahr 2016 auf 32 Prozent im Jahr 2021. 2026 soll er bereits bei 40 Prozent liegen. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich bei den digitalen Services. Ihr Anteil ist innerhalb von fünf Jahren von fünf Prozent auf 13 Prozent gestiegen. Er soll 2026 24 Prozent betragen. Einer der zentralen Treiber der Entwicklung ist Künstliche Intelligenz (KI). 66 Prozent der befragten Unternehmen messen ihr folglich eine große Bedeutung bei.
Der Einsatz von KI hat aber auch gesellschaftliche und geopolitische Folgen. Laut einer Studie von Goldman Sachs lassen sich weltweit 18 Prozent aller Tätigkeiten durch Künstliche Intelligenz automatisieren, in der Eurozone sogar fast ein Viertel. Ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit ist wie bei zurückliegenden industriellen Entwicklungssprüngen nicht zu erwarten. Im Gegenteil: KI hat das Potenzial, den wachsenden Fachkräftemangel zu lindern und völlig neue Jobs wie den „Digitalen Instandhalter“ zu schaffen. Eines scheint indes schon jetzt sicher zu sein: Europa muss sich anstrengen, um im globalen KI-Rennen nicht von China und den USA abgehängt zu werden. „Wir müssen eigene Sprach- und auch Geschäftsmodelle entwickeln und uns über die gesamte Wertschöpfungskette Gedanken machen“, fordert die KI-Expertin Doris Weßels (Artikel auf Seite 24) und spricht von einer „gigantischen Herausforderung“.