Chefsache

"Ganzheitlich in Datenräumen denken"

Markus Asch, CEO von Rittal, erwartet in den kommenden Jahren einen deutlichen Schub bei der Digitalisierung. Rittal setzt auf Digitale Zwillinge und maximale Datentransparenz.

 

Digitalisierung ist derzeit wieder ein Topthema. Woran liegt das?
Es hat sich tatsächlich etwas verändert, wofür ich zwei Gründe sehe, die zusammen den „Perfect Storm“ ergeben. Erstens müssen wir dringend Energie sparen – ein Druck, der in den vergangenen Jahren nochmal erheblich verschärft wurde. Zweitens schauen wir heute auch völlig anders auf das Thema „Digitalisierung“ als noch vor einigen Jahren: Wir haben verstanden, dass einzelne digitalisierte Komponenten noch keine Industrie 4.0 ergeben. Stattdessen müssen wir gemeinsame Datenräume schaffen und prozessübergreifend Sektoren koppeln. Dann erst können wir wirklich verändern und optimieren. Catena-X und Manufacturing-X können uns dabei sehr weiterbringen. Dank dieser neuen Reife im Verständnis bin ich mir sicher: Wir werden in den nächsten zwei Jahren deutlich mehr Bewegung sehen als in den vergangenen zehn Jahren.

Rittal hat sich selbst vom blechverarbeitenden Betrieb zum globalen Digitalisierungsunternehmen entwickelt. Welcher Gedanke hat Sie auf diesem Weg geleitet?
Der erste Schritt war der Übergang zum Systemgedanken, im Gegensatz zum Denken in Komponenten. Das war noch keine Digitalisierung, hat das Geschäft unserer Kunden aber dennoch spürbar einfacher und effizienter gemacht. Diese Idee haben wir dann beim Schaltschrank mit all seinen Komponenten, Ausprägungen und Lösungsvarianten Schritt für Schritt weiterentwickelt. Der entscheidende Gedanke war: Wenn wir in Kundenprozessen denken, stellen wir schnell fest, dass der Schaltschrank etwa fünf Prozent der Gesamtkosten ausmacht, die Personalkosten aber 40 Prozent. Um hier eine substanzielle Verbesserung für unsere Kunden zu erreichen, dürfen wir die Komponenten nicht isoliert betrachten – wir müssen vielmehr die gesamte Wertschöpfungskette betrachten und den Prozess durchgängig digitalisieren.

Wie weit sind Sie damit schon vorangekommen?
Ein beachtliches Stück. Wir denken heute ganzheitlich in Datenräumen und schaffen dafür Digitalisierungslösungen. So machen wir das Geschäft unserer Kunden effizienter. Ein Schaltschrank ist Teil einer Automatisierungslösung mit Sensoren und Aktoren, einer Stromversorgung, Durchbrüchen für Displays und vielem mehr. Entscheidend für die Endanwender ist also das Endprodukt, nicht mehr die einzelne Komponente. Darum erstellen unsere Kunden im Steuerungs- und Schaltanlagenbau für jeden Schaltschrank einen digitalen Zwilling, der über den gesamten Prozess vom Engineering mit Eplan über die Montage, Verkabelung und Ausstattung bis hin zur Auslieferung verfügbar ist. Die Kunden sparen dadurch bis zu 60 Prozent der Arbeitsleistung. Alle Beteiligten bis hin zu den späteren Betreibern der Anlagen haben einen „Single Point of Truth“, der immer die aktuellen Informationen bereithält. Ein Techniker muss nur den QR-Code am Schaltschrank scannen und kann beispielsweise am Tablet jede Modifikation eingeben. Früher kam es nach der Auslieferung zum Bruch: Die Anlage wurde in Betrieb genommen und modifiziert, sodass der digitale Zwilling nicht mehr auf dem aktuellen Stand war. So kommt es, dass die meisten Unternehmen heute nicht wissen, was genau in ihren Fabriken verbaut ist.

Wie haben Sie intern die Digitalisierung genutzt?
Das kann man sehr gut an unserem neuen Werk in Haiger sehen. Dort stellen wir jeden Tag bis zu 8.000 Schaltschränke her, 90 Prozent Standardprodukte und zehn Prozent kundenindividuelle Lösungen, bei denen es theoretisch Milliarden mögliche Varianten gibt. Wir haben keine Möglichkeit, das im Vorfeld über Teilenummern zu digitalisieren. Stattdessen nehmen wir die Konfiguration, die unsere Kunden online vornehmen, leiten diesen digitalen Datensatz komplett bis auf die Steuerungsebene durch und steuern damit unsere Maschinen papierlos. Zum digitalen Zwilling des Produkts kommt der Zwilling des Produktionsprozesses hinzu: Unser „Digital Production System“ bringt Transparenz in die Fertigung, indem es Daten erfasst und kontextualisiert – also einzelnen Prozessen zuordnet. Allein in Haiger kommen so jeden Tag rund 18 Terabyte an Daten zusammen, in denen wir quasi in Echtzeit Anomalien oder Engpässe erkennen können.

Was lernen Sie noch aus den Daten?
Ein für uns extrem wichtiges Thema ist Energieeffizienz. Eines hat uns der Ukraine-Krieg gelehrt: Wir müssen als Industrie völlig anders mit Energie umgehen – immerhin verbrauchen wir rund 45 Prozent des Stroms in Deutschland. Viele Fabriken werden heute noch rein auf Stückzahlen und Kosten optimiert. Bald wird aber der Tag kommen, an dem man auf Stückzahlen, Kosten und Energie optimieren muss. Kaum ein Unternehmen weiß heute jedoch, wie viel Energie einzelne Prozesse verbrauchen. Bei Rittal nutzen wir den Produktionszwilling dafür, den Energieverbrauch einzelnen Komponenten zuzuordnen. Das hilft uns dabei, Regelungen zu optimieren oder Lastspitzen zu vermeiden. Unser Ziel ist es, bis zu den einzelnen Antriebskomponenten Transparenz zu schaffen – denn in Zukunft werden wir im Rahmen der Nachhaltigkeitsdokumentation den CO2-Verbrauch jedes Bauteils dokumentieren müssen.

Nutzen Sie die Daten Ihres Produktionszwillings bereits, um mithilfe von Künstlicher Intelligenz automatisch Schlüsse daraus zu ziehen?
Ich denke, die Fabrik der Zukunft muss zuvor noch einige Schritte durchlaufen. Durch den digitalen Produktionszwilling haben wir heute die transparente Fabrik geschaffen. Derzeit sind wir auf dem Weg zur kollaborativen Fabrik, die teilweise automatisch auf Analyseerkenntnisse reagiert. Die nächste Stufe ist die selbstoptimierende Fabrik, in der unsere Modelle mithilfe von KI selbstständig lernen. Am Ende steht die „Lights Out Factory“, die sich ohne manuelle Eingriffe permanent selbst optimiert.

Das klingt so, als würden die Fabriken der Zukunft menschenleer sein …
Ganz und gar nicht. Wir haben eine Daumenregel: In der Endstufe der Digitalisierung werden wir mindestens ein Drittel weniger Arbeitskräfte benötigen als bisher – bei deutlich erhöhter Varianz und Flexibilität der Produktion. Wir werden aber auch in Zukunft nicht ohne Menschen in den Werken auskommen. Ich empfehle ohnehin einen anderen Blick auf das Thema: Unsere branchenübergreifend größte Herausforderung ist es, überhaupt qualifizierte Mitarbeiter zu bekommen. Nur über Digitalisierung werden wir Produktion in Deutschland halten können. Es entstehen dadurch auch völlig neue Berufsbilder. Bei uns arbeiten beispielsweise inzwischen viele „Digitale Instandhalter“, die etwa bei Problemen mit Datensätzen in der Produktion eingreifen. Genauso wie ihre Kollegen von der mechanischen Instandhaltung sind sie 24 Stunden und sieben Tage die Woche im Einsatz.

Lassen Sie uns zum Schluss auf den gesamten Standort blicken. Wie ist Deutschland insgesamt in puncto Digitalisierung aufgestellt?
Wir haben leider eine analoge Verwaltung und andere Probleme in diesem Bereich. Auch wenn der Abgesang auf den Standort übertrieben ist, sind viele dieser Befürchtungen zumindest teilweise berechtigt. Aber ich sehe auch Positives. Was wird beispielsweise der Industrie 4.0 zum Durchbruch verhelfen? Das werden die vielen klugen Unternehmen sein, die sektorenübergreifend zusammenarbeiten, gemeinsame Datenräume schaffen und so echte Sprünge ermöglichen. Genau dafür ist Deutschland bestens aufgestellt.

 

Text Christian Buck | Fotografie Natalie Bothur

 

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 2.2023 am 2. Oktober 2023 erschienen.



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