Digitalisierung ist derzeit wieder ein Topthema. Woran liegt das?
Es hat sich tatsächlich etwas verändert, wofür ich zwei Gründe sehe, die zusammen den „Perfect Storm“ ergeben. Erstens müssen wir dringend Energie sparen – ein Druck, der in den vergangenen Jahren nochmal erheblich verschärft wurde. Zweitens schauen wir heute auch völlig anders auf das Thema „Digitalisierung“ als noch vor einigen Jahren: Wir haben verstanden, dass einzelne digitalisierte Komponenten noch keine Industrie 4.0 ergeben. Stattdessen müssen wir gemeinsame Datenräume schaffen und prozessübergreifend Sektoren koppeln. Dann erst können wir wirklich verändern und optimieren. Catena-X und Manufacturing-X können uns dabei sehr weiterbringen. Dank dieser neuen Reife im Verständnis bin ich mir sicher: Wir werden in den nächsten zwei Jahren deutlich mehr Bewegung sehen als in den vergangenen zehn Jahren.
Rittal hat sich selbst vom blechverarbeitenden Betrieb zum globalen Digitalisierungsunternehmen entwickelt. Welcher Gedanke hat Sie auf diesem Weg geleitet?
Der erste Schritt war der Übergang zum Systemgedanken, im Gegensatz zum Denken in Komponenten. Das war noch keine Digitalisierung, hat das Geschäft unserer Kunden aber dennoch spürbar einfacher und effizienter gemacht. Diese Idee haben wir dann beim Schaltschrank mit all seinen Komponenten, Ausprägungen und Lösungsvarianten Schritt für Schritt weiterentwickelt. Der entscheidende Gedanke war: Wenn wir in Kundenprozessen denken, stellen wir schnell fest, dass der Schaltschrank etwa fünf Prozent der Gesamtkosten ausmacht, die Personalkosten aber 40 Prozent. Um hier eine substanzielle Verbesserung für unsere Kunden zu erreichen, dürfen wir die Komponenten nicht isoliert betrachten – wir müssen vielmehr die gesamte Wertschöpfungskette betrachten und den Prozess durchgängig digitalisieren.
Wie weit sind Sie damit schon vorangekommen?
Ein beachtliches Stück. Wir denken heute ganzheitlich in Datenräumen und schaffen dafür Digitalisierungslösungen. So machen wir das Geschäft unserer Kunden effizienter. Ein Schaltschrank ist Teil einer Automatisierungslösung mit Sensoren und Aktoren, einer Stromversorgung, Durchbrüchen für Displays und vielem mehr. Entscheidend für die Endanwender ist also das Endprodukt, nicht mehr die einzelne Komponente. Darum erstellen unsere Kunden im Steuerungs- und Schaltanlagenbau für jeden Schaltschrank einen digitalen Zwilling, der über den gesamten Prozess vom Engineering mit Eplan über die Montage, Verkabelung und Ausstattung bis hin zur Auslieferung verfügbar ist. Die Kunden sparen dadurch bis zu 60 Prozent der Arbeitsleistung. Alle Beteiligten bis hin zu den späteren Betreibern der Anlagen haben einen „Single Point of Truth“, der immer die aktuellen Informationen bereithält. Ein Techniker muss nur den QR-Code am Schaltschrank scannen und kann beispielsweise am Tablet jede Modifikation eingeben. Früher kam es nach der Auslieferung zum Bruch: Die Anlage wurde in Betrieb genommen und modifiziert, sodass der digitale Zwilling nicht mehr auf dem aktuellen Stand war. So kommt es, dass die meisten Unternehmen heute nicht wissen, was genau in ihren Fabriken verbaut ist.