Zwiegespräch

„Wir brauchen mutige Entscheidungen“

Regenerativ erzeugter Strom soll zum primären Energieträger einer klimaneutralen Volkswirtschaft werden. Welche Entscheidungen auf dem Weg dorthin getroffen werden sollten, diskutiert ZVEI-Präsident Dr. Gunther Kegel mit Oliver Krischer, stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen.

Immer häufiger ist die Rede von einer All-Electric-Society. Was genau ist darunter zu verstehen?

Kegel: Strom ist der dominante Energieträger der Zukunft, weil er CO2-frei produziert, transportiert und genutzt werden kann. Das bedeutet nicht, dass wir in kurzer Zeit mit Gewalt alles auf elektrischen Strom umstellen wollen. Natürlich wird es für erneuerbare Energie auch andere Speicherformen geben – vor allem Wasserstoff und synthetische Brennstoffe. Wir sollten technologieoffen in die Zukunft schreiten.

Krischer: Wer sollte denn gegen Technologieoffenheit sein? Mein Problem mit dem Begriff ist nur, dass er in der politischen Debatte häufig als Chiffre für Nichtstun genutzt wird, nach dem Motto: Das wird sich schon irgendwie regeln. Das geht so nicht. Wir müssen schnell CO2-neutral werden. Dafür muss man bestimmte Infrastrukturentscheidungen rechtzeitig treffen, auch weil man nicht alles gleichzeitig machen kann. Ich stehe voll hinter dem Begriff der All-Electric-Society, wenn damit gemeint ist, dass überall dort, wo direkte elektrische Anwendungen sinnvoll sind, die dafür notwendigen Entscheidungen getroffen werden.

Kegel: Genau das meinen wir! Überall wo die hohen Effizienzpotenziale einer direkten Stromnutzung zu heben sind, sollte man die Umstellung auf den Energieträger Strom mit hoher Geschwindigkeit vorantreiben. 

 

Wie zufrieden sind Sie denn mit den bislang getroffenen Infrastrukturentscheidungen?

Kegel: In der zu Ende gehenden Legislaturperiode sind wichtige Entscheidungen getroffen worden, etwa zur Wasserstoffstrategie oder zum Ausbau der Ladeinfrastruktur. Aber nun steht die Umsetzung an. Dafür bleibt viel zu tun, etwa um Gebäude und Verteilnetze für die Elektromobilität zu ertüchtigen.

Krischer: In Deutschland sind wir eher spät dran, was den Aufbau der dafür erforderlichen Infrastruktur betrifft. Wir sind noch weit davon entfernt, an den Punkten, wo Menschen ihre Autos lange stehen lassen, hinreichend Lademöglichkeiten zu schaffen. Aus meiner eigenen, nun vierjährigen Erfahrung als Elektromobilist kann ich berichten, dass dem Laden zuhause dabei die wichtigste Rolle zukommt. Und wenn man doch unterwegs laden muss, ist das jedes Mal ein Abenteuer ...

„Man sollte die Umstellung auf den Energieträger Strom mit hoher Geschwindigkeit vorantreiben.“

Dr. Gunther Kegel, ZVEI

Mittlerweile dauert es Jahre, ein einzelnes Windrad genehmigt zu bekommen. Müsste der Aufbau einer modernen Energie-Infrastruktur nicht deutlich schneller erfolgen?

Krischer: Es geht immer da schief, wo Investoren von außerhalb nicht gut mit den Menschen vor Ort kommunizieren. Wenn man Bürger und Kommunen direkt am finanziellen Erfolg beteiligt, ist die Identifikation eine ganz andere. Natürlich ist nicht jede Region für Windkraft gleichermaßen geeignet, aber wir können nicht ganze Bundesländer von Windenergie freihalten. Da mangelt es an vielen Stellen auch an politischer Führung. Im Übrigen sollten wir die Photovoltaik stärker ausbauen. 90 Prozent der geeigneten Dachflächen in Deutschland werden noch nicht genutzt.

Kegel: Der Widerstand gegen den Aufbau neuer Infrastrukturen ist auch ein Phänomen unserer ausdifferenzierten parlamentarischen Demokratie. Nach langjährigen Planungs- und Genehmigungsprozessen und nach parlamentarischer Abstimmung entsteht oft Widerstand, zum Beispiel durch Bürgerinitiativen vor Ort. Gegen eine direkte Demokratie ist im Grunde nichts einzuwenden, aber beides hintereinander – zunächst ein zeitaufwendiger parlamentarischer Prozess und danach Bürgerprotest, der die parlamentarische Entscheidung kippt – macht Großprojekte in Deutschland weitgehend undurchführbar. Wenn wir den Ausbau erneuerbarer Energien schnell vorantreiben wollen, können wir uns mit diesen jahrelangen Verfahren nicht zufriedengeben. Es muss möglich sein, schneller zu verbindlichen Ergebnissen zu kommen. 

Krischer: Ich finde das zu defätistisch. Wir haben es immerhin geschafft, in Deutschland, einem der am dichtesten besiedelten Länder Europas, 30.000 Windkraftanlagen zu errichten und zu betreiben. Wenn Projekte scheitern, liegt das oft an Einzeltatbeständen vor Ort, etwa Mindestabständen zu Flughäfen oder der Störung seismischer Messungen. Solche Partikularinteressen sollten wir hinterfragen. Wenn wir die Energiewende wollen, müssen wir mutige Entscheidungen treffen. 

Welche Weichen müssen in der kommenden Legislaturperiode gestellt werden?

Krischer: Neben einem beschleunigten Ausbau von Windenergie und Photovoltaik gehört natürlich der Netzausbau dazu. Hier sehen wir zwar Fortschritte bei den Übertragungsnetzen, aber wir müssen die bestehenden Netze auch intelligenter auslasten können. Für zentral halte ich zudem, dass wir eine Reform der Umlagen auf den Strompreis hinbekommen und insbesondere die EEG-Umlage schnell abschmelzen. Wir können nicht weiterhin ausgerechnet den Energieträger am teuersten machen, der am klimafreundlichsten ist. Davon müssen wir weg. Mit dem CO2-Preis auf fossile Brennstoffe haben wir einen Einstieg, aber wir brauchen dafür auch einen europäischen Weg.

Kegel: Wenn man dem Strom als Energieträger der Zukunft einen hohen Stellenwert einräumt, darf man nicht alle Kosten, die der Umbau hin zu einem klimaneutralen Energiesystem erfordert, auf genau diesen Energieträger umlegen. Stattdessen müsste man die nicht CO2-freien Energieträger finanziell belasten und den CO2-freien Strom komplett entlasten. Den aktuellen CO2-Preis auf fossile Brennstoffe kann man dafür wirklich nur als Einstieg bezeichnen. Er führt noch nicht dazu, dass sich klimaneutrale Technologien auf marktwirtschaftlichem Weg durchsetzen. Was ich Ihnen, Herr Krischer, gerne mitgeben würde: Ein Großteil der Industrie hat überhaupt kein Problem mit einer CO2-Bepreisung, wenn sie über lange Fristen planbar ist. Wir reden dabei von zehn, vielleicht sogar 15 Jahren. Das ist die Grundlage, auf der Investitionsentscheidungen getroffen werden können.

Krischer: Man kann hierfür noch über Abstufungen sprechen, aber die Richtung stimmt auf jeden Fall. Gar nicht infrage kommt für mich, alles in das bereits existierende Handelssystem ETS zu überführen. Denn die CO2-Vermeidungskosten unterscheiden sich erheblich. In der Mobilität betragen sie 180 bis 200 Euro pro Tonne CO2 – wenn man also die CO2-Emissionen über das ETS steuern würde, passiert im Verkehr gar nichts. Strich drunter: Ein CO2-Preis ist richtig und wichtig. Man muss sich aber auch im Klaren darüber sein, dass er nicht alle anderen Instrumente ersetzt. Im Gebäude- und Verkehrssektor werden auch ordnungsrechtliche Maßnahmen benötigt.
Kegel: Letztlich gibt es keine wirksamere Maßnahme als die Marktwirtschaft. Wenn sich Menschen aus eigenem Antrieb auf den Weg machen, bekommt man eine enorme Hebelwirkung. Das bedeutet natürlich nicht, dass es darüber hinaus keinen Ordnungsrahmen gibt. Einen solchen Rahmen zu schaffen, ist die hoheitlichste Aufgabe der Politik! Sie sollte dabei aber immer abwägen, wie weit sie in das Leben der Menschen eingreifen will … 

„Ich sehe Klimaschutz als Chance, unsere Industriegesellschaft auf ein neues Level zu heben.“

Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen

Ist Klimaschutz ohne Verzicht möglich?

Krischer: Sehe ich wie Verzicht aus? Ich sehe Klimaschutz als Chance, unsere Industriegesellschaft auf ein neues Level zu heben und technisch dabei an der Spitze zu stehen. Dieses Land war immer gut, wenn wir weltweit die höchsten Standards gesetzt haben und daraus gute technische Lösungen abgeleitet haben. Das heißt nicht, dass man nicht darüber nachdenken sollte, ob acht Fernreisen pro Jahr vernünftig sind. 

Kegel: Wir müssen meines Erachtens unbedingt weg vom Narrativ des Verzichts. Das lässt sich mit der Mehrheit der Menschen nicht umsetzen, schon gar nicht außerhalb Europas. Das Narrativ muss eher lauten: So sehen die Innovationen aus, mit denen du deinen Lebensstandard verbessern kannst, ohne den Planeten zu ruinieren. Das wäre ein potenzieller Exportschlager!

 

Dafür benötigt Deutschland qualifizierte Fachkräfte. Droht uns da eine Lücke?

Kegel: Wenn die Babyboomer jetzt allmählich in Rente gehen, kommen auf zehn Ingenieure und Ingenieurinnen, die wir in den Ruhestand verabschieden dürfen, nur noch etwa sechs Studienabsolventen und -absolventinnen. In der Elektrotechnik ist dieses Missverhältnis besonders ausgeprägt. Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass wir mehr Menschen mit technischer Ausbildung benötigen. Die geforderten Solaranlagen stellen sich nicht von selbst auf. Wir haben bereits sehr vieles probiert, um die Aufmerksamkeit von jungen Menschen frühzeitig auf unsere Branche zu lenken. Beispielsweise um mehr Frauen für elektrotechnische Berufe und Studiengänge zu begeistern. Die Erfolge sind, ehrlich gesagt, überschaubar. 

Krischer: Die eierlegende Wollmilchsau, die alle Fragen des Fachkräftemangels löst, gibt es einfach nicht. Was ich an meinen eigenen Söhnen beobachte: Junge Menschen wollen einen Beruf, in dem sie dazu beitragen, die Welt besser zu machen. Um das herauszustellen, haben Industrie und Ingenieurwissenschaften noch etwas Nachholbedarf. Unternehmer sollten darüber reden, was sie zum Klimaschutz beitragen. 

Kegel: Viele junge Bewerber fragen in der Tat nach dem gesellschaftlichen Beitrag, den wir als Unternehmen leisten. Der reicht freilich über den Klimaschutz hinaus, zum Beispiel indem wir sehr sichere und gut bezahlte Arbeitsplätze bieten. In den im ZVEI organisierten Unternehmen in Deutschland gibt es Ingenieure, die mit entsprechender Berufserfahrung häufig mehr als 70.000 Euro im Jahr verdienen. Sie haben mit Urlaub und mithilfe des Zeitkontenausgleichs bis zu 48 freie Werktage pro Jahr – und das bei voller tariflicher Absicherung! In der Elektroindustrie kann man also an der Zukunft der Welt mitarbeiten und gleichzeitig seine Balance zwischen Leben und Arbeiten finden.

Text: Johannes Winterhagen | Fotografie: Alexander Grüber, Henning Ross

 

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1+2.2021 am 3. Mai 2021 erschienen



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