Messtechnik stellt Ihr Kerngeschäftsfeld dar. Inwieweit gibt es bei Ihnen davon unabhängige, rein digitale Geschäftsmodelle?
Die gibt es nicht. Messtechnik wandelt biologische, chemische oder physikalische Effekte in Signale um. Diese Signale digitalisieren wir und generieren so nicht nur Informationen, sondern in Kombination mit anderen Informationsquellen auch Wissen. Das ist unsere Aufgabe!
Also wird es auch künftig keine disruptiven Geschäftsmodelle bei Ihnen geben?
Ein völlige Entkopplung von der physischen Welt ist für uns nicht denkbar. Die Digitalisierung ist allerdings sehr wohl disruptiv, aber in anderem Sinn als oft interpretiert. Disruptiv heißt nicht „dramatisch schnell“, wir digitalisieren seit über 20 Jahren. Die Lebensdauer einer verfahrenstechnischen Anlage beträgt 25 bis 50 Jahre, in der sie immer wieder optimiert und zunehmend digitalisiert wird. Die Veränderung wird stattfinden, sie ist unumkehrbar und in diesem Sinn disruptiv. Industrie 4.0 hält vielleicht langsamer Einzug als zunächst gedacht, doch der damit verbundene Wandel ist viel tief greifender, als das irgendjemand zu Beginn dachte. Er verändert nicht nur Wertschöpfungsketten, sondern auch die Arbeit der Menschen – und damit deren Verhalten. Daher muss man in Dekaden denken.
Die Politik denkt in kürzeren Zeiträumen. Wie kann sie einen solchen Transformationsprozess trotzdem effektiv unterstützen?
Nicht nur wir, sondern viele Mitgliedsunternehmen im ZVEI ermöglichen es, die digitale Welt an die reale Welt anzubinden. Die Frage ist, was mit den so gewonnenen Daten passiert. Wenn die Nutzung allein durch monopolartige Plattformen erfolgt, stellt sich schon die Frage, ob ein gewisses Maß an Regulierung notwendig ist. Für den Umgang mit Daten braucht es ein Regelwerk, das für alle Marktteilnehmer gilt. Besonders relevant ist das, wenn eine Diskriminierung von Markteilnehmern oder gar Personen durch Algorithmen erfolgt
Ich dachte, als Erstes fordern Sie von der Politik eine moderne digitale Infrastruktur.
Die digitale Infrastruktur ist genauso wichtig wie die Infrastrukturen für Strom und Wasser. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass der Staat dafür Sorge trägt. Jetzt müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf den Mobilfunkstandard 6G richten. Dabei sollte Europa ein „Level playing field“ mit den großen anderen Wirtschaftsblöcken China und USA schaffen und eine digitale Entkopplung vermeiden.
Faire Wettbewerbsbedingungen mit China und den USA zu schaffen, ist wiederum eine große Forderung, insbesondere in einer Zeit, in der die Globalisierung auf dem Rückzug scheint.
Die Pandemie war sicher ein Stresstest für die globalen Lieferketten. Man kann daraus ableiten, dass die Ketten resilienter werden müssen. Aber deswegen wird ein Stahlwerk in den USA nicht plötzlich wettbewerbsfähiger als ein chinesisches. Eine Veränderung könnte es bedeuten, wenn – etwa durch eine CO2-Importsteuer – die Umweltanforderungen in Europa keinen Wettbewerbsnachteil mehr bedeuten. Dann nämlich wird der Mensch zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Und Menschen werden sich immer die Frage stellen: Wo lebe und arbeite ich gern? Und dann bin ich zuversichtlich, dass das europäische System, das Freiheit und dezentrale Strukturen mit kollektivem Bewusstsein verbindet, wettbewerbsfähig ist.
Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Altendorf.