Chefsache

„Wir digitalisieren seit 20 Jahren“

Die Digitalisierung der Industrie ist für Matthias Altendorf, Vorstandschef des Messtechnikanbieters Endress+Hauser, alles andere als neu. Und doch ist er überzeugt: Die Verbindung von digitaler und realer Welt kann zum entscheidenden Vorteil Europas im Wettbewerb der Systeme werden.

Herr Altendorf, Ihre Karriere begann in den 1980er-Jahren mit einer handfesten Lehre als Werkzeugmacher. Gab es damals schon einen Computer in der Produktion?

IT-Systeme gab es schon in der Buchhaltung und in anderen kaufmännischen Bereichen. Und in der Produktion hielten immer mehr CNC-Maschinen Einzug, die mit einer numerischen Steuerung arbeiteten. Noch als Lehrling schrieb ich die ersten CNC-Programme auf dem Computer und lud sie dann auf die Werkzeugmaschine. Das bedeutete einen großen Produktionsschub, weil man zuvor direkt an der Maschine programmierte, die währenddessen nicht laufen konnte. Nach Abschluss meiner Lehre habe ich dann meine Oma um Geld gebeten, um mir für das Studium den ersten eigenen Computer zu kaufen. Übrigens: Erste Füllstandssensoren, die mit einem Mikroprozessor ausgestattet waren, hat Endress+Hauser bereits Ende der 1970er-Jahre hergestellt.

Machen wir einen Zeitsprung in die Gegenwart. Was hat die Digitalisierung bislang gebracht?

Der wichtigste Unterschied zu früher ist der hohe Grad an Vernetzung, den wir erreicht haben. Gleichzeitig führt die Digitalisierung dazu, dass Menschen statt repetitiver Tätigkeiten nun Arbeiten ausführen, für die sie viel besser geeignet sind und für die sie ihr volles Potenzial nutzen können.

Hilft uns die Digitalisierung, große Krisen wie den Klimawandel besser zu meistern?

Davon bin ich fest überzeugt, und meine Erfahrungen in der Corona-Krise haben mich darin bestärkt. Wir konnten unter den Randbedingungen der Pandemie weiterhin sehr produktiv arbeiten. Manches lässt sich daraus für den Einsatz gegen den Klimawandel lernen. Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings darin, dass man im Unternehmen üblicherweise digitalisiert, um wettbewerbsfähiger, also attraktiver für den Kunden zu werden. Hingegen fehlt es bei der Transformation hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft an unmittelbarem, sofortigem Nutzen für den einzelnen Akteur. Trotzdem können uns digitale Technologien dabei helfen, diese Transformation zu gestalten. Dafür aber braucht es Investitionen, nicht nur von Privatunternehmen, sondern auch von Seiten des Staates.

 

Die Prozessindustrie, in der Ihre Kunden vor allem tätig sind, gilt hinsichtlich Investitionen eher als zurückhaltend.

Ich sehe einen tief greifenden Umbruch. Dabei spielt der Gesetzgeber natürlich eine Rolle, aber keinesfalls zu unterschätzen sind die Kapitalmärkte. So wie wir als privates Familienunternehmen für Kunden, Mitarbeitende, Gesellschafter und Gesellschaft einen positiven Beitrag leisten wollen, gilt das für viele Kapitalgeber auch. Bei großen Kunden in der Chemiebranche oder auch der europäischen Öl- und Gas-Industrie können wir daher eine tief greifende Neuorientierung beobachten. Das geht über das Ziel der Klimaneutralität hinaus und umfasst auch soziale Aspekte und die komplette Unternehmensführung.

Schlägt sich das auch in konkretem Handeln nieder?

Die verfahrenstechnischen Industrien sind weiter, als man dies in der Öffentlichkeit allgemein wahrnimmt. Es wird eine Fülle an Nachhaltigkeits-Parametern erfasst und darauf basierend werden Ziele für die Optimierung gesetzt. Das Gros der Unternehmen ist auf der Reise und hat bereits ein hohes Maß an Transparenz hergestellt. Beim CO2-Ausstoß spielt dann aber in fast allen Zweigen der Prozessindustrie der Energiemix eine große Rolle. 

Apropos Transparenz: Endress+Hauser kam 2020 auf eine CO2-Emission von 8,9 Tonnen pro Million Euro Umsatz. Wie exakt ist denn eine solche Angabe?

Alle Emissionen, die wir selbst verursachen, basieren auf eigenen Messungen, nicht auf Schätzungen. Die Emissionen, die durch Vorprodukte und Transporte verursacht werden, müssen wir aktuell schätzen, was beispielsweise bei einem Halbleiter alles andere als einfach ist. Aber letztlich werden wir hier – durch digitale Vernetzung – zu einem immer höheren Maß an Transparenz kommen. Wenn wir heute aus dem Logistikzentrum heraus versenden, wissen wir anhand der Stückliste ganz genau, wie groß und wie schwer das Paket wird. Und genauso werden wir anhand von Stücklisten den CO2-Fußabdruck benennen können. 
(Hinweis der Redaktion: Ein entsprechendes Projekt hat der ZVEI im Jahr 2021 gestartet, siehe S. 20 f.)

 

Das Gros der Unternehmen ist auf der Reise.

Matthias Altendorf, Endress+Hauser

Messtechnik stellt Ihr Kerngeschäftsfeld dar. Inwieweit gibt es bei Ihnen davon unabhängige, rein digitale Geschäftsmodelle?

Die gibt es nicht. Messtechnik wandelt biologische, chemische oder physikalische Effekte in Signale um. Diese Signale digitalisieren wir und generieren so nicht nur Informationen, sondern in Kombination mit anderen Informationsquellen auch Wissen. Das ist unsere Aufgabe!

Also wird es auch künftig keine disruptiven Geschäftsmodelle bei Ihnen geben?

Ein völlige Entkopplung von der physischen Welt ist für uns nicht denkbar. Die Digitalisierung ist allerdings sehr wohl disruptiv, aber in anderem Sinn als oft interpretiert. Disruptiv heißt nicht „dramatisch schnell“, wir digitalisieren seit über 20 Jahren. Die Lebensdauer einer verfahrenstechnischen Anlage beträgt 25 bis 50 Jahre, in der sie immer wieder optimiert und zunehmend digitalisiert wird. Die Veränderung wird stattfinden, sie ist unumkehrbar und in diesem Sinn disruptiv. Industrie 4.0 hält vielleicht langsamer Einzug als zunächst gedacht, doch der damit verbundene Wandel ist viel tief greifender, als das irgendjemand zu Beginn dachte. Er verändert nicht nur Wertschöpfungsketten, sondern auch die Arbeit der Menschen – und damit deren Verhalten. Daher muss man in Dekaden denken.

Die Politik denkt in kürzeren Zeiträumen. Wie kann sie einen solchen Transformationsprozess trotzdem effektiv unterstützen?

Nicht nur wir, sondern viele Mitgliedsunternehmen im ZVEI ermöglichen es, die digitale Welt an die reale Welt anzubinden. Die Frage ist, was mit den so gewonnenen Daten passiert. Wenn die Nutzung allein durch monopolartige Plattformen erfolgt, stellt sich schon die Frage, ob ein gewisses Maß an Regulierung notwendig ist. Für den Umgang mit Daten braucht es ein Regelwerk, das für alle Marktteilnehmer gilt. Besonders relevant ist das, wenn eine Diskriminierung von Markteilnehmern oder gar Personen durch Algorithmen erfolgt

Ich dachte, als Erstes fordern Sie von der Politik eine moderne digitale Infrastruktur.

Die digitale Infrastruktur ist genauso wichtig wie die Infrastrukturen für Strom und Wasser. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass der Staat dafür Sorge trägt. Jetzt müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf den Mobilfunkstandard 6G richten. Dabei sollte Europa ein „Level playing field“ mit den großen anderen Wirtschaftsblöcken China und USA schaffen und eine digitale Entkopplung vermeiden.

Faire Wettbewerbsbedingungen mit China und den USA zu schaffen, ist wiederum eine große Forderung, insbesondere in einer Zeit, in der die Globalisierung auf dem Rückzug scheint.

Die Pandemie war sicher ein Stresstest für die globalen Lieferketten. Man kann daraus ableiten, dass die Ketten resilienter werden müssen. Aber deswegen wird ein Stahlwerk in den USA nicht plötzlich wettbewerbsfähiger als ein chinesisches. Eine Veränderung könnte es bedeuten, wenn – etwa durch eine CO2-Importsteuer – die Umweltanforderungen in Europa keinen Wettbewerbsnachteil mehr bedeuten. Dann nämlich wird der Mensch zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Und Menschen werden sich immer die Frage stellen: Wo lebe und arbeite ich gern? Und dann bin ich zuversichtlich, dass das europäische System, das Freiheit und dezentrale Strukturen mit kollektivem Bewusstsein verbindet, wettbewerbsfähig ist.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Altendorf.

 

Text: Johannes Winterhagen | Fotografie: MARVIN ZILM

 

Dieser Artikel erscheint in der Ausgabe 1.+2..2022 am 17. Mai 2022.



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