Wie viel von der Bürokratie, die Sie beklagen, kommt aus der EU?
Hager: Ich möchte an der Stelle auf Bundesjustizminister Marco Buschmann verweisen, der die Bürokratieauflagen mit europäischem Bezug auf 57 Prozent beziffert. Natürlich ist es immer auch eine Frage, wie die Vorgaben in nationales Recht umgesetzt werden. Da gibt es sicherlich drei oder vier Länder, in denen es die Unternehmen noch härter trifft – Frankreich zum Beispiel ist sehr hart in der Umsetzung. Ich wünsche mir deshalb eine europäische Koordinierung bei den nationalen Umsetzungen. Unternehmen, die in mehreren EU-Ländern aktiv sind, müssen derzeit überall unterschiedliche Regeln zur gleichen Regulierung beachten und auch Daten immer wieder anders erheben.
Weeser: Wir müssen uns bewusst machen, was das für kleinere mittelständische Unternehmen bedeutet. Ich komme aus dem Mittelstand und habe selbst erlebt, wie Bürokratie die Kapazitäten der Geschäftsführung bindet. In der Zeit, in der die Bürokratieauflagen erledigt werden, wird nichts verkauft, nichts erfunden, nichts umgesetzt. Das geht massiv auf die Schaffenskraft der Firmen.
Hager: Die Bürokratie ist auch für größere Unternehmen zu viel. Wir beschäftigen in einem größeren Familienunternehmen etwa acht Mitarbeiter, die nur mit Berichtswesen beschäftigt sind und Daten zu den diversen Auflagen liefern. In großen Konzernen sind es noch mehr. Das bezahlt am Ende meist der Kunde. Wir können uns diese Bürokratie als Gesellschaft nicht mehr leisten. Wir sollten überprüfen – auch in Europa – was mit den Daten tatsächlich gemacht wird. Auflagen, die nichts bringen, müssen abgeschafft werden.
Die Bürokratielast ist seit Jahren Thema, und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat im vergangenen Jahr das Ziel ausgegeben, die Berichtspflichten für Unternehmen um 25 Prozent zu reduzieren. Bewegt sich etwas?
Weeser: Das sehe ich auf europäischer Ebene leider nicht. Unter Frau von der Leyen ist die Bürokratie in den vergangenen fünf Jahren deutlich angewachsen. Der Tenor in der EU ist eigentlich: für jede Verordnung, die hinzukommt, muss eine alte verschwinden. Davon ist nichts zu sehen. Es gibt eine Zahl des Statistischen Bundesamts, die einiges zum allgemeinen Bürokratietrend für deutsche Unternehmen aussagt: Der Erfüllungsaufwand aus den Bürokratielasten ist allein im Jahr 2022 für die deutsche Wirtschaft um 711 Millionen Euro angestiegen. Letztlich drücken die ständigen Nachweispflichten ein tiefes Misstrauen in das Handeln von Unternehmen aus.
Hager: Misstrauen ist ein Thema. Ein anderes ist das fehlende Verständnis der Politik für die Funktionsweise der Wirtschaft und der Wirtschaftsunternehmen. Wenn ich die nicht verstehe, muss ich eben alles kontrollieren.
Frau Weeser, Sie beobachten die europäische Reformpolitik. Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung auf künftigen Bürokratieabbau macht?
Weeser: Emmanuel Macron hat Deutschland die Hand ausgestreckt, um ein gemeinsames Vorgehen der beiden größten Volkswirtschaften in dieser Sache anzustoßen. Das wäre für mich ein Schritt in die richtige Richtung. Ich denke zum Beispiel an das Lieferkettengesetz. Nachdem wir uns in Deutschland nach jahrelangen Diskussionen auf eine Reform geeinigt hatten, wurden wir ein paar Monate später mit einem europäischen Lieferkettengesetz konfrontiert. Es gibt meiner Meinung nach viele Herausforderungen, die sich nur im europäischen Kontext lösen lassen. Deshalb wäre es besser, auf nationaler Ebene manchmal ein bisschen mehr Ruhe zu bewahren und zu beobachten, was in der EU vorbereitet wird.
Hager: Ein Aspekt, den wir nicht vergessen dürfen, ist die Verunsicherung in den Behörden, die von der Überregulierung ausgelöst wird. Wir erleben öfters, dass Beamte sich nicht mehr trauen, Genehmigungen auszustellen. Sie kommen mit der Komplexität nicht mehr zurecht, wissen nicht mehr, wie Gesetze auszulegen und zu handhaben sind und stellen schließlich ihre eigene Haftbarkeit in den Vordergrund.