Kontinent der Chancen
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ampere 1.2024
Zwiegespräch
Das geopolitische Umfeld und die ausufernde Bürokratie fordern Europa heraus. Reinhard Bütikofer, Mitglied des Europaparlaments, und ZVEI-Präsident Dr. Gunther Kegel sprechen im ampere-Interview über den Zustand der EU und ihre Zukunftsperspektiven.
Herr Bütikofer, Sie verlassen nach 15 Jahren das Europaparlament. Wie haben sich die EU und das geopolitische Umfeld in dieser Zeit verändert?
Bütikofer: Die EU steht heute vor einer Herausforderung, die vor 15 Jahren kaum jemand so erwartet hätte. Wir haben geglaubt, dass das multilaterale, westlich-demokratische System fest gefügt ist. Stattdessen hat es fundamentale Verschiebungen gegeben, die auch die Offenheit von Märkten berührt. Darum muss Europa einen neuen Aufbruch starten – und ich würde sagen: Wir sind schon mittendrin. Das gilt für die Industrie-, aber auch für die Außenpolitik. Alles sortiert sich gerade neu.
Wie kann Europa überhaupt noch Einfluss ausüben, wenn seine weltweite Bedeutung – zum Beispiel ökonomisch – immer weiter zurückgeht?
Bütikofer: Wir sollten in unseren Außenbeziehungen etwas zum Leitprinzip machen, das sich innerhalb der Gemeinschaft bewährt: Stärke durch Kooperation. Wir müssen mit Ländern wie Japan, Australien, Mexiko oder Kanada, die uns in vielen grundsätzlichen Fragen nahestehen, noch enger kooperieren. Leider gibt es aber in Europa die verhängnisvolle Idee der „strategischen Autonomie“ – als ob es zu wünschen wäre, dass die EU besonders eifrig und oft als eigener Pol handelt. Das halte ich für falsch, denn wir brauchen „strategische Kooperation“. Mit unserer zum Teil arroganten Haltung gegenüber potenziellen Partnern haben wir China und Russland viel zu viel Platz gelassen. Wir müssen ein besseres Angebot machen als diese autoritären Mächte!
Herr Dr. Kegel, was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen für die EU?
Kegel: Ich bin nun seit rund 35 Jahren in der Wirtschaft tätig. In dieser Zeit war die Globalisierung eine Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg. Aber auch unter humanitären Gesichtspunkten war sie eine gute Sache: Sie hat dadurch so viele Menschen wie nie zuvor aus bitterster Armut befreit. Leider sind wir seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine auf dem Weg zu einer machtbasierten Politik. Das ist brandgefährlich. Denn eine Exportnation wie Deutschland, aber auch Europa als Ganzes brauchen friedliche Koexistenz, Partnerschaften auf Augenhöhe und regelbasierte Strukturen. Daran muss die EU dringend arbeiten.
Wie sollte sich die EU in diesem neuen Umfeld aufstellen?
Kegel: Wir sind mitten in einem Veränderungsprozess, von dem wir noch nicht wissen, wo er hinführen wird. Sicher ist: Wir müssen unsere eigene Wehrfähigkeit steigern und können nicht mehr darauf bauen, dass die Amerikaner für uns die Kastanien aus dem Feuer holen – denn das werden sie nicht mehr tun. Trotzdem ist die erwähnte „strategische Autonomie“ auch keine Lösung. Das kann Europa nicht überleben, denn dazu sind wir zu klein.
Bütikofer: Ich glaube, dass der Übergang zu einer machtbasierten Welt noch nicht vollständig vollzogen ist. Wir können noch dazu beitragen, dass es nicht so weit kommt. Im UN-Sicherheitsrat hat der kenianische Botschafter sinngemäß gesagt: „Wir teilen mit der Ukraine das Interesse, dass große Staaten nicht kleinere Nachbarn unter ihre Herrschaft zwingen können. Wir sind als Afrikaner zwar nicht direkt betroffen – aber wenn sich diese Handlungsweise durchsetzt, gibt es auch in keinem anderen Teil der Welt mehr Stabilität und Frieden.“ Auf solche Partner müssen wir setzen. Wir könnten mit rohstoffreichen Ländern in Afrika kooperieren und ihnen helfen, eine eigene Verarbeitungsindustrie beispielsweise für Seltene Erden aufzubauen. Darüber diskutiert die EU unter der Überschrift „Global Gateway Initiative“. Die Frage ist aber, ob alles schnell genug geht.
Einfluss setzt wirtschaftliche Stärke voraus. In letzter Zeit hört man aber immer mehr die Klage, dass sich die EU von einem Wachstumsmotor zu einem Regulierungsmonster entwickelt hat. Herr Dr. Kegel, wie schlimm ist die Lage derzeit?
Kegel: Unser Binnenmarkt ist ein unglaubliches Pfund. Er wird jetzt aber überschattet durch eine Regulierungswut, die in der vergangenen Legislaturperiode neue Höhen erreicht hat. Allein zum Thema „Datenökonomie“ warten fünf neue Rechtsakte auf uns! Bereits jetzt schlagen wir uns mit der Datenschutzgrundverordnung herum, die geistig aus den 1980er-Jahren stammt. Hinzu kommt ein deutsches Lieferkettengesetz, das durch ein europäisches Sorgfaltspflichtengesetz abgelöst wird und uns unfassbare Dokumentationspflichten auferlegt – insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen ist das eine große Last.
Was bedeutet das für die Wirtschaft?
Kegel: Für das Unternehmen, dem ich vorstehe – mit etwa 1.800 Beschäftigten in Deutschland – bearbeiten mittlerweile zehn Personen diese Compliance-Themen. Aus den Erfahrungen mit dem Dodd-Frank Act in den USA weiß man, dass dieser Aufwand in keinem Verhältnis zu den erreichten Veränderungen steht. Die EU hat ihre Regulierung dennoch nach diesem Vorbild gestaltet.
Sitzen also in Europa Bürokraten, die sich Regulierungen ausdenken, ohne deren Folgen abzuwägen?
Bütikofer: Wir müssen aufpassen, dass wir bei aller berechtigter Kritik nicht einer Fantasie hinterherlaufen: dass es ohne Regulierung geht. Märkte entstehen aus Regulierungen und dafür haben wir in Europa einen Werkzeugkasten. Manche Werkzeuge sind darin aber nicht enthalten. US-Präsident Biden hat mit dem Inflation Reduction Act eine ökologische Investitionsoffensive gestartet, die im Wesentlichen nicht das Ordnungsrecht, sondern marktwirtschaftliche Instrumente nutzt. In der EU ist das nicht möglich, weil dafür die Mitgliedsländer verantwortlich sind. Wenn die EU etwas regulieren will, muss sie andere Werkzeuge nutzen. Ich glaube allerdings, dass die Art und Weise, wie wir zu Regulierungen kommen, antiquiert ist. Es wäre intelligenter, wenn sich Wirtschaft und Gesellschaft vorher gemeinsam überlegen würden, wie man zum Beispiel beim Green Deal die ökologischen Aspekte als Triebkraft für mehr Wettbewerbsfähigkeit nutzen kann.
Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft: Wie sollte die EU in zehn Jahren aufgestellt sein?
Bütikofer: Es gibt eine Sache, die ich mir ganz besonders wünsche: Die EU sollte sich mehr um die Partnerschaft mit Ländern aus dem globalen Süden bemühen. Sonst werden diese Länder zu einer Mobilisierungsmasse für die autoritären Regimes. Chinas Propaganda sagt: „Der Westen hat die ganze Welt jahrhundertelang kolonialistisch ausgebeutet. Wir sind die erste nicht-westliche Nation, der ein Aufstieg gelungen ist. Ihr müsst uns alle unterstützen – denn wenn wir aufgestiegen sind, kommt ihr hinterher.“ Wenn wir durch unser Verhalten noch Öl ins Feuer gießen und diese Länder nicht partnerschaftlich behandeln, dürfen wir uns über die Konsequenzen nicht wundern.
Kegel: Ich kann das nur unterstreichen. Außerdem wünsche ich mir, dass wir in zehn Jahren mit der Vollendung des Binnenmarkts weiter sind, zum Beispiel in den Bereichen Netzausbau, Digitalisierung und Telekommunikation. Denn damit bleiben wir attraktiv für mögliche Partner. Und diesen Partnern müssen wir mit kompromissgeleiteter Politik begegnen – und nicht mit einer Politik des erhobenen Zeigefingers. Das Freihandelsabkommen mit Indien ist ein perfektes Beispiel: Wir haben hier die Chance, alles richtig zu machen. Es besteht aber auch die Gefahr, dass wir europäische Standards durchsetzen wollen, die dort nicht umzusetzen sind. Wir sollten Länder wie Indien nicht China und Russland überlassen, sondern uns als demokratischer Kontinent um Partnerschaften mit ihnen bemühen.
Text Christian Buck | Bilder European Union - Quelle: EP, ZVEI/ Alexander Grüber
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 2.2024 am 15. April 2024 erschienen.
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